Gedanken zum Krieg: Thomas Mann – Wahrhaben, was wahr ist (Veröffentlicht am 28.07.2023)

Neben Briefen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit vermitteln auch Literaturquellen aus der damaligen Zeit einen anschaulichen Eindruck davon, was Krieg für die Menschen bedeutet und welch hohen Preis alle Soldaten und ihre Familien im Krieg zu bezahlen haben – zumeist ganz im Gegensatz zu jenen, die ihn politisch angefacht und initiiert haben. Es ist von zentraler Bedeutung, die Erinnerung an die Zeiten des Krieges und an seine Folgen wach zu halten, um zu verhindern, dass die immer gleichen Mechanismen einmal mehr in Ganz gesetzt werden und sich die Geschichte mit immer fataleren Folgen wiederholt.

An den Gräbern der auf dem Soldatenfriedhof in Hürtgen beerdigten Toten stehend, hat der damalige Bundespräsident Theodor Heuss die Bedeutung des Kriegsgedenkens in seiner Rede zur Eröffnung dieses Friedhofs am 17.08.1952 wie folgt formuliert:

„Sie waren Menschen wie wir. Aber an diesen Kreuzen vernehmen wir ihre Stimmen: ‚Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.‘“

Zu diesem Zweck sollen hier unter dem Titel „Gedanken zum Krieg“ Literaturauszüge wiedergegeben werden, die den Krieg und seine Folgen beschreiben, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

Kaum jemand hat die Talente der Deutschen einerseits und ihren bedauernswerten Charakterzug andererseits, ihrer politischen Führung mit unkritischem Gehorsam selbst bis in die unsäglichsten menschlichen Abgründe zu folgen, so treffend in Worte gefasst wie Thomas Mann. Ebenso bemerkenswert wie beunruhigend aktuell sind seine Ausführungen im Vorwort des Buches seiner Tochter Erika Mann „Zehn Millionen Kinder – Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich“ (englischsprachige Erstausgabe veröffentlicht im Jahr 1938 unter dem Titel „School for Barbarians. Education under the Nazis“), wo er Folgendes schreibt:

(…) Die ganze Verbissenheit der heutigen deutschen Führer in den einen Gedanken der Staatsmacht, ihre tödliche Entschlossenheit, diesem Gedanken – wenn es denn ein Gedanke ist – durchaus alles unterzuordnen, das geistige und seelische Gesamtleben der Nation ohne jedes menschliche Reservat von ihm bestimmen zu lassen, malt sich in dem hier analysierten, aus vielen nur zu kennzeichnenden Einzelheiten entwickelten Erziehungsplan, welcher ja ein Zukunftsprogramm ist, der unerbittliche Entwurf des deutschen Menschenbildes von morgen.

Die ganze fanatische Umsicht, Konsequenz, Genauigkeit, Lückenlosigkeit tritt zu Tage, mit welcher dieser eine Gedanke erzieherisch ins Werk gesetzt und auf jeden einzelnen Lehr-Gegenstand bestimmend angewandt wird, so dass es sich eigentlich niemals um diesen selbst handelt, nicht die Erschließung seiner Gehalte an Bildungsmöglichkeit, Wissen, menschlicher Förderung den Sinn des Unterrichtes ausmacht, sondern allein seine oft genug gewaltsam hergestellten Beziehungen zur fixen Idee kriegerischer Tüchtigkeit und nationalen Vorranges. Das Ergebnis ist klar: Es ist die radikale und in einem bösartigen Sinn asketische Verleugnung des Geistes, wenn wir unter diesem Namen die Ideen »Wahrheit«, »Erkenntnis«, »Gerechtigkeit«, also doch wohl die höchsten und reinsten Ziele des Menschentums zusammenfassen. Jene aus versunkenen Zeiten stammende Definition: Deutsch sein, das heiße, eine Sache um ihrer selbst willen tun, hat jede Gültigkeit verloren. Die deutsche Jugend hat sich keiner Sache um ihrer selbst willen zu widmen, sondern die Beschäftigung mit einer jeden ist politisch bedingt, eingeschränkt und gemodelt, sie ist, unter strikter Abtötung des objektiven Wahrheitssinnes, bezogen auf ein Außerhalb der Sache, einen Willen, der der deutsche Wille zu sein hat: den Willen des Staates zur absoluten Macht über die Gemüter im Inneren und zur Ausbreitung seiner Macht nach außen.

Ein Voluntarismus dieser Art, eine solche Durchpolitisierung von Wahrheit und Forschung flößt einen weniger moralischen als natürlichen Schauder ein. Sie hat etwas Krampfhaftes, Gewaltsames und Ungesundes, das darauf hindeutet, wie wenig sie der Natur des Volkes eigentlich gemäß ist, dem sie auferlegt wird oder das sie sich auferlegen zu müssen glaubt. Der Ruhm deutscher Nation bestand immer in einer Freiheit, die das Gegenteil patriotischer Borniertheit ist: in einer besonderen Beziehung zum objektiven Geist. In ihr konnte das Wort gesprochen werden: »Der Patriotismus verdirbt die Geschichte«. Es war Goethe, der es sprach. Die eigentlich un- und überpolitische Natur dieses Volkes, seine eigentliche Berufenheit zum Geiste wird deutlich gerade durch die Maßlosigkeit, die »Gründlichkeit«, mit der es heute, nach der Vorschrift von Führern, die das nichts kostet, seinen besten und klassischen Eigenschaften abschwört und sie der totalen Politik opfert. Dies Volk der »Mitte« ist in Wahrheit ein extremes Volk. Politik? Macht? Dann überhaupt nichts mehr von Geist, Wahrheit, Gerechtigkeit, freier Erkenntnis und Bildung. Es wirft – heroisch – seine Menschlichkeit über Bord, in der Meinung, sich damit für die Welt-Vorherrschaft in Form zu bringen.

Muss man es nicht erinnern an das Wort der Schrift: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« Dies Wort will die Macht nicht verneinen; es will nur wahrhaben, was wahr ist: dass Macht einen Inhalt und Sinn, eine innere Berechtigung haben muss, um echte, menschlich anerkannte und darum haltbare Macht zu sein, und dass diese Rechtfertigung immer nur vom Geiste kommt. Ist es nicht hoffnungslos und närrisch, ein Gut mit Mitteln gewinnen zu wollen, die dieses erstrebte Gut selbst völlig aushöhlen und entwerten? Wie stellt das deutsche Volk, wie stellen seine Führer sich die Ausübung einer europäischen Hegemonie vor, die mit moralischen und intellektuellen Opfern bezahlt ist, wie der nationalsozialistische Erziehungsplan sie fordert? Wie steht es um die Berufenheit eines Volkes zur Macht, das solche Opfer bringen muss, um sie zu erringen? Eines Volkes, das sein Unterstes, Niedrigstes, das Schlechteste, Roheste, Geistfremdeste und Geistfeindlichste nach oben bringen, ihm absolute Gewalt über sich geben muss, um die »Welt« zu gewinnen?

Ist auf solche Weise die Welt zu gewinnen, selbst wenn man sie beherrscht? Ist eine Macht ausübbar und haltbar, die sich gegen den ganzen Druck von Hass und Verachtung zu behaupten hätte, die solche Mittel notwendig erzeugen? Ja, ist es nicht eine traurige Illusion von vornherein zu glauben, man könne siegen in dem Zustande, in den das deutsche Volk sich heute versetzt oder versetzen lässt? Ein geistig erniedrigtes und verarmtes, moralisch reduziertes Volk und will den Erdkreis übersiegen. Das ist ja absurd. Man sticht die anderen nicht aus, indem man sich auf den Hund bringt, und nichts ist dümmer, als allen Idealismus für bloße Dummheit zu halten. Wahrheit und freie Forschung sind keine schwächenden Luxusgüter, die ein Volk untüchtig machen zum Lebenskampf; sie gehören zum Leben, sie sind das tägliche Brot, und die Parole »Wahr ist, was mir nützt« ist eine Elendsparole, ein idealistisch-antiidealistischer Krampf, mit dem man niemanden übervorteilt und exploitiert, sondern, mit dem man in größter Schnelle herunterkommt. Der wissenschaftliche Rückgang Deutschlands, sein rapides Ins-Hintertreffen-Geraten auf allen Gebieten des Geistes ist schon heute ein öffentliches Geheimnis. Es wird sich unheilvoll vollenden und zu umfassender, nie wieder gut zu machender praktischer Auswirkung gelangen, wenn den furchtbaren Typen, die heute in Deutschland zu sagen haben, genügend Zeit gelassen wird, ihr bösartiges Ertüchtigungsprogramm zu exekutieren.

Hoffen wir mit der Verfasserin dieses Buches, dass die edleren Anlagen und Bedürfnisse des deutschen Volkes sich bei Zeiten gegen so falsche und lebenswidrige Zumutungen durchsetzen werden.

 

New York, 7. Mai 1938

 

Im Jahre 1938 wurde diese Hoffnung enttäuscht. Im Jahr 2023 sieht es leider nicht viel anders aus.

 

(Titelfoto: Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn/Niederlande, Mai 2023)

 

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