Gedanken zum Krieg: Deutsche Luftwaffenhelfer und russische Kriegsgefangene (Veröffentlicht am 12.09.2023)

Neben Briefen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit vermitteln auch Literaturquellen aus der damaligen Zeit einen anschaulichen Eindruck davon, was Krieg für die Menschen bedeutet und welch hohen Preis alle Soldaten und ihre Familien im Krieg zu bezahlen haben – zumeist ganz im Gegensatz zu jenen, die ihn politisch angefacht und initiiert haben. Es ist von zentraler Bedeutung, die Erinnerung an die Zeiten des Krieges und an seine Folgen wach zu halten, um zu verhindern, dass die immer gleichen Mechanismen einmal mehr in Ganz gesetzt werden und sich die Geschichte mit immer fataleren Folgen wiederholt.

An den Gräbern der auf dem Soldatenfriedhof in Hürtgen beerdigten Toten stehend, hat der damalige Bundespräsident Theodor Heuss die Bedeutung des Kriegsgedenkens in seiner Rede zur Eröffnung dieses Friedhofs am 17.08.1952 wie folgt formuliert:

„Sie waren Menschen wie wir. Aber an diesen Kreuzen vernehmen wir ihre Stimmen: ‚Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.‘“

Zu diesem Zweck sollen hier unter dem Titel „Gedanken zum Krieg“ Literaturauszüge wiedergegeben werden, die den Krieg und seine Folgen beschreiben, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

Mit dem Versterben der letzten Zeitzeugen schwindet es zunehmend aus dem Bewusstsein, welches Ausmaß der von dem damaligen politischen Regime in Deutschland ausgerufene „totale Krieg“ für die dortige Bevölkerung hatte. Es sei daran erinnert, dass dieser Krieg – zumindest außerhalb der politischen Kaste – vor niemanden Halt machte. Mit dessen zunehmender Dauer verpflichtete der deutsche Staat selbst Frauen, Kinder und Alte dazu, in unterschiedlicher Form ihren Beitrag zur Kriegsführung zu leisten.

Beispielsweise wurden ab Februar 1943 Oberschüler der Geburtenjahrgänge 1926 bis 1928 zum Einsatz als sog. „Flakhelfer“ im Rahmen der Flugabwehr der Luftwaffe („Luftwaffenhelfer“) und – in deutlich geringerem Umfang – der Kriegsmarine („Marinehelfer“) verpflichtet, ab 1944 auch Mittelschüler und Lehrlinge dieser Jahrgänge. Sie wurden klassenweise und innerhalb der Klassen nach Jahrgängen zum Einsatz befohlen. Rechtsgrundlage dieser Verpflichtung war die „Notdienstverordnung des Deutschen Reiches vom 15.10.1938“, wonach der deutsche Staat jeden Bewohner des Reichsgebiets mit Vollendung des 15. Lebensjahres zu beliebigen Diensten heranziehen konnte. Die Luftwaffenhelfer sollten fronttaugliche Soldaten ersetzen, die aus den Flakstellungen abgezogen und an die Front geworfen wurden. Zwar waren Luftwaffenhelfer formell keine Soldaten, sondern offiziell der Hitlerjugend („HJ“) zugeordnet, in den Flakstellungen erfüllten sie jedoch zumeist soldatische Aufgaben. Daneben blieben sie Schüler, die neben ihrem militärischen Dienst am Einsatzort weiter an schulischem Unterricht teilzunehmen hatten. Zwischen 1943 und 1945 sollen verschiedenen Schätzungen zufolge, deren Grundlage unbekannt ist, zwischen 200.000 und mehr als 500.000 „Flakhelfer“ eingesetzt worden sein; viele von ihnen haben diesen Einsatz nicht überlebt.

Es gibt eine Fülle von Berichten ehemaliger Luftwaffen- und Marinehelfer, die einen anschaulichen Eindruck von den Erfahrungen und Schrecken vermitteln, denen diese jungen Menschen ausgesetzt wurden (vgl. z. B. Nicolaisen, „Der Einsatz der Luftwaffen- und Marinehelfer im zweiten Weltkrieg“ (1981) oder Schmeling, „Vom Krieg ein Leben lang geprägt“ (1997); für einen ersten Überblick eignet sich der entsprechende Wikipedia-Artikel).

 

Mit Blick darauf, wie Menschen unter Kriegsbedingungen mit den ihnen als „Feinden“ vermittelten anderen Menschen umgehen, ist eine Episode aus einem Bericht eines solchen Luftwaffenhelfers erkenntnisreich. Sie handelt von der Behandlung ihrer „Untergebenen“, in diesem Fall russischen Kriegsgefangenen, durch die durchschnittlich 16jährigen Luftwaffenhelfer, wobei der berichtende, ehemalige Luftwaffenhelfer mit kritischem Rückblick 40 Jahre danach auch einige der staatlichen Mechanismen beschreibt, mit denen der Jugend damals das gewünschte „Feindbild“ vermittelt wurde und welche Auswirkungen dies hatte.

 

In dem Buch „Feuer frei, Kinder! – Eine mißbrauchte Generation, Flakhelfer im Einsatz“ von Itschert/Reucher/Schuster/Stiff (1. Aufl., 1984), heißt es auf S. 60 ff. (Hervorhebungen diesseits):

„In der schon erwähnten Hierarchie waren wir jungen Luftwaffenhelfer das vorletzte Glied, denn nach uns rangierten noch die russischen Kriegsgefangenen, die zu dieser Zeit den meisten Flakbatterien in der Heimat zugeteilt waren. Ihre Aufgaben bestanden, darin, das Batteriegelände – wie alle anderen Tätigkeiten natürlich unter Aufsicht der hierfür zuständigen Unteroffiziere und Soldaten – in Ordnung zu halten, kleinere handwerkliche Arbeiten zu verrichten, dem Küchenpersonal die niederen Dienste abzunehmen, vor allem aber auch als Munitionskanoniere, während der Kampfeinsätze an den Geschützen für den Nachschub der Granaten zu sorgen. Unsere Verpflegung zu dieser Zeit des Krieges war noch relativ gut und auch – auf uns Heranwachsende zugeschnitten – quantitativ ausreichend und, da auch ab und zu aus dem Elternhaus ein kleiner Kuchen oder ein aus Magermilch hergestellter Pudding den persönlichen Speisezettel bereicherten, konnten wir schon mal ein Viertel der normalen Zuteilung an Kommissbrot erübrigen.

Für unsere ‚Iwans‘, wie wir die [russischen] Kriegsgefangenen nannten, war solch Stückchen Brot ein heiß begehrter Besitz. Er verschaffte dem solchermaßen glücklichen ‚Unglücklichen‘ bei seinen Mitgefangenen, die, wenn auch nicht zu gleichen Teilen, daran partizipieren durften, Dankbarkeit und Achtung. Wie wenig der Mensch, wenn er hungert, auf Würde und Selbstachtung Wert legt, wurde uns hier in jungen Jahren recht deutlich vor Augen geführt, denn für das überlassene Brot forderten wir natürlich eine Gegenleistung. Da es nicht erlaubt war, sich mit den Gefangenen außerdienstlich einzulassen, kam noch der Reiz des Verbotenen dazu, wenn wir uns gewissermaßen als Naturalvergütung die Dienste des jeweiligen ‚Iwans‘ sicherten, der dann heimlich unsere Schuhe putzte, die Strümpfe stopfte und auch die Stube kehren musste. Was muss in diesen jungen Menschen im Alter von 18 bis etwa 30 Jahren, Bauernsöhne, Arbeiter, auch einige Studenten, wohl vorgegangen sein? Wie haben sie die entwürdigende Situation verkraftet? Wie werden sie später reagiert haben, nachdem aus Besiegten Sieger, aus Gedemütigten Demütigende, aus Hungernden wieder Satte geworden waren?

Für mich verbindet sich mit diesem Komplex der russischen Kriegsgefangenen in unserer Batterie ein Erlebnis, das meine Einstellung zum Krieg – wenn auch zunächst nur unbewusst und ohne Konsequenzen im Einsatz – beeinflusst hat: Mein persönlicher ‚Iwan‘, ein rundlicher, etwa zwanzigjähriger Bauernsohn aus der Ukraine den wir seiner Ähnlichkeit wegen mit dem Sowjetgeneral nur ‚Timoschenko‘ nannten, war ein primitiver Junge, gutmütig, unkompliziert, fast peinlich unterwürfig, in jedem Deutschen den ‚Herrn‘ anerkennend — und stets hungrig. Wenn er seine ‚Dienste‘ bei mir beendet hatte, wartete er geduldig auf seine Brotration, aß sofort den ihm zustehenden Teil mit Heißhunger und versteckte den Anteil für seine Kameraden im schmuddeligen Drillichanzug. Die Aufseher – altgediente Obergefreite zumeist – wussten von diesen Gepflogenheiten und drückten zwei Augen zu. Doch gab es auch einige, die sich eine Freude daraus machten, das Brot den armen Kerlen abzunehmen und mit einem Fußtritt den ertappten Delinquenten an seinen eigentlichen Arbeitsplatz zu scheuchen.

So kam es eines Tages, dass mein ‚Timoschenko‘ nicht für mich ‚arbeiten‘ konnte, da ein strenger Aufseher Dienst hatte. Der Bursche tat mir leid, wie er um unsere Ausbildungsbaracken herumschlich und mit bedauerlicher Miene dem so ersehnten und dringend benötigten Brot, das er sich ja nicht ‚verdienen‘ konnte, nachtrauerte. Umso größer war sein Erstaunen, als ich ihm in einem unbewachten Augenblick den Brotlaib zusteckte. Er schien es nicht verstehen zu können, dass er ohne Arbeitsleistung entlohnt wurde. Fast schien es mir, als bemerkte ich in seinem devoten Blick ein aufblitzendes Misstrauen, Angst vor einer möglichen Falle, in die er tappen könnte. Ob es mein aufmunterndes Kopfnicken oder die vom Hunger gesteuerte Begierde war, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall verstaute er nach kurzem Zögern schnell das kostbare Gut und ging der aufgetragenen Arbeit weiter nach, ab und zu noch einen verstohlenen Blick riskierend, ob nicht doch noch ein Unheil auf ihn zukommen würde. Am nächsten Tag sah ich ‚Timoschenko‘ zum letzten Mal. Er wurde krank und kam in ein Lazarett für russische Kriegsgefangene. Was aus ihm geworden ist, habe ich nie erfahren. Aber der eben geschilderten Episode mit dem ‚geschenkten‘ Brot verdanke ich das Gespräch, das mich so stark beeindruckt und beeinflusst hat und das ich hier wiedergeben möchte.

Ein etwa 25jähriger, schlankwüchsiger und blonder russischer Kriegsgefangener, gebürtig aus Moskau und Student an einer technischen Hochschule, fand einige Tage später die Möglichkeit, mit mir zu sprechen und bedankte sich in sehr gutem Deutsch für seinen Mitgefangenen, der ja nicht mehr in unserer Batterie war. Ich sagte ihm, dass es doch nichts Besonderes wäre, wenn man auch ohne Verpflichtung etwas geben würde. Er überlegte lange, bevor er antwortete: ‚Das ist bei uns nicht üblich. Wir Russen würden so etwas wahrscheinlich in der gleichen Situation nicht tun.‘ Nur Leistung würde belohnt, für sentimentale Handlungen wäre kein Platz. Ganz unvorstellbar der Gedanke, gar einem Gegner zu helfen. Ich gab ihm zu verstehen, dass es für mich nicht auf den Status Freund oder Feind ankäme, sondern auf den Menschen, der doch nichts dafür kann, dass er auf der anderen Seite steht und nicht auf der unseren und dessen Magen eben knurrt, wenn er Hunger hätte, und dass es völlig gleich wäre, in welcher Uniform der einzelne in diesem Fall stecken würde. Auch die von ‚Timoschenko‘ gezeigte Bereitschaft, etwas zu tun, wäre doch Anlass genug gewesen, zu geben. Man müsse auch unterscheiden zwischen einem Gegner im Kampf, der mit gleicher Chance, zu gewinnen, gegenüberstehe, und einem wehrlosen Gefangenen, der weitgehend auf die Hilfe und Güte des momentan Stärkeren, des Besiegers, angewiesen wäre.

Erstaunt fragte der Russe mich, ob wir Deutschen alle so dächten. Ich weiß heute nicht mehr genau, war es Eitelkeit, dass meine Worte den doch etwa zehn Jahre älteren Russen beeindruckt haben könnten oder ehrliche Überzeugung, die mich antworten ließ: fast alle würden so handeln; das habe nichts mit der Unerbittlichkeit im Kampf zu tun, sondern wäre ein ganz natürlicher Ausdruck von Menschlichkeit. Er drückte mir die Hand und sagte, bevor er ging: Wenn wir alle so denken könnten, hätte es wahrscheinlich keinen Krieg gegeben, wäre er heute nicht hier, müsste auch ich in so jungen Jahren nicht hier stehen. Mir fiel nichts Besseres ein, als ihm zu sagen, er möchte noch etwas warten, ich wolle ihm noch etwas Brot und ein Stück Margarine holen. Da bedankte er sich – sichtlich bewegt –, bat mich aber um Verständnis, wenn er ablehne. Er müsse unser Gespräch erst überdenken, bevor er seine bisherige Einstellung zu uns Deutschen, seinen Feinden, zu denen ich ja auch gehören würde, ändern könne – wenn überhaupt!

Am Abend dachte ich sehr lange über dieses Gespräch nach. Noch war ich zu jung, um mir ein abschließendes Urteil über den Sinn – wenn es einen gäbe – des Krieges zu bilden. Im Geschichtsunterricht hatten wir von den verschiedensten Arten der Kriege – Religionskriege, Eroberungskriege, Rassenkriege, Verteidigungskriege, Kolonialkriege, Wirtschaftskriege und von vielen anderen – gehört, und immer waren wir, suchte man nach den Gründen, die dazu führten, im Recht, gleichgültig ob wir nachher Sieger oder Besiegte waren. Ein vorprogrammiertes Hassgefühl gegen jeden ehemaligen und zukünftigen Gegner wurde uns eingeimpft. War es bei meinem russischen Gesprächspartner nicht ähnlich? Fühlten er und sein Volk sich nicht auch im Recht, genau wie wir? Und wer hatte recht? Uns jungen Luftwaffenhelfern – zwar durch HJ und teilweise Schule ideologisch einseitig unterrichtet und-ausgerichtet – fehlten Erfahrung und Weitblick, Objektivität und Toleranz, um hier ein Urteil zu fällen. Ich war innerlich zerstritten, die Begeisterung für unsere Aufgabe hatte einen Dämpfer bekommen. Dazu kam, dass mein russischer Gesprächspartner es vermied, mir noch einmal zu begegnen. Ich konnte mir denken, zu welcher Ansicht er gelangt war, und das trug ebenfalls nicht dazu bei, mich mit der moralischen Pflicht zum Kampf bis zum Letzten voll zu identifizieren.

Dass ich dennoch meinen Dienst an der Waffe ohne jeden Abstrich weiter versah, hatte viele Gründe, von denen ich nur einige anführe: Ich fand einfach keine Alternative zu meinen bisherigen Ansichten, die mich ganz hätte überzeugen können. Die kameradschaftliche Bindung zum Klassenverband und die enge Verbindung zu den langjährigen Freunden, verhinderten ein Ausbrechen aus der Gemeinschaft und der von ihr durchzuführenden Aufgaben. Hinzu kam später noch die Wut, fast ohnmächtig den Bombenangriffen der Alliierten auf die Heimatstadt ausgesetzt zu sein, ohne die Eltern und Verwandten, die Freunde und Bekannten, die liebgewonnenen Häuser, Straßen und Höfe, die Parks und die Theater, Geschäfte und Fabriken hinreichend schützen zu können.

Heute – das sind 40 Jahre später – habe ich Mitleid mit mir, dem 15jährigen, der in so jungen Jahren mit Entscheidungen konfrontiert wurde, die über seine geistigen und vor allem seelischen Kräfte hinausgingen. Und heute bringe ich auch das Verständnis dafür auf, dass es mir damals nicht gelungen ist, auf alle Fragen eine — die richtige — Antwort zu finden.“

 

Der Bericht zeigt die Mechanismen des Krieges und wie die einmal entfesselte Kriegsmaschinerie durch den Umstand am Laufen gehalten wird, dass Hass stets mehr Hass bewirkt, was letztlich in der Bevölkerung nur Verlierer und Leidtragende hinterlässt. Nicht zuletzt aus dieser Erfahrung heraus waren hierzulande seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Devisen unangefochtene Staatsräson: „Nie wieder Krieg!“ und „Wehret den Anfängen!“ Wer hiervon abrückt, nimmt billigend in Kauf, dass sich die Geschichte erneut wiederholt – oder hat es gar darauf abgesehen.

 

(Titelfoto: Unbekannte Luftwaffenhelfer,
aus: Nicolaisen, „Der Einsatz der Luftwaffen- und
Marinehelfer im zweiten Weltkrieg“ (1981), Bildteil nach S. 135)

 

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