Menschlichkeit im Krieg: Sibirien, Dezember 1944 (Veröffentlicht am 03.01.2024)

Genauso sicher wie der Krieg Tod und Leid gebärt, bewirkt er auch auf allen Seiten das Hervortreten von Menschen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben und die anderen in Not befindlichen Menschen selbst dann Hilfe und Beistand leisten, wenn diese zum „Feind“ erklärt wurden, dessen Unterstützung mit Gefahr für das eigene Leben verbunden ist.

Über einen solchen Vorgang aus ihrer Kriegsgefangenschaft in Sibirien im Jahr 1944 berichten Rudi Weit und Erwin Mager in einer Publikation des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Weit Mager – Das Wunder des 24. Dezember, Kriegsgefangenschaft in Sibirien 1944, aus: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit [8. Aufl., 2017], S. 136 ff.).

 

Sie schreiben dort:

„Draußen um die Baracke pfiff und jaulte ein eisiger Wind, der aus der nahen sibirischen Steppe hineintrieb und nur ab und zu von unheimlichen Fetzen klagenden Geheuls der hungrigen Wölfe, die um das Lager herumstrichen, übertönt wurde.

35 bis 40 Grad unter Null! Darum fühlten wir uns geradezu geborgen in der riesigen Baracke, die sich durch unsere eigenen Körper mit ‚Wärme‘ angereichert hatte, und so einigermaßen erträgliche Temperatur und so einen aushaltbaren Aufenthalt ergaben.

Geborgenheit – kannten wir sie noch? Waren wir innerlich nicht allzu sehr aufgewühlt, um solches überhaupt noch zu spüren?

Besonders am heutigen Tag, dem Heiligen Abend, hofften wir, dass man uns bei dieser klirrenden Kälte in der Baracke ließe, zumal es Wochenende war. Doch leider weit gefehlt. Ganz plötzlich forderte der wachhabende Offizier uns auf: ‚Heraustreten, schnell, schnell!‘.

Wir versammelten uns hinter dem riesigen und streng bewachten Lagertor. Der Natschalnik-Konvoi, ein kirgisischer Postenführer, zählte uns mühsam und mürrisch, bis es hieß ‚Choroscho, daway‘, was übersetzt hieß: ‚Alles in Ordnung – Abmarsch‘.

Die klirrende Kälte ließ die Haut bald erstarren, und wenn man sich nicht gegenseitig kontrollierte, ob weiße Flecken im Gesicht entstehen, um sie sofort mit Schnee einzureiben, war schnell ein irreparabler Schaden im Gesicht geschehen.

Wohin es gehen sollte, wussten wir nicht. Bald kamen wir an eine improvisierte Baustelle. Dort standen einige Waggons, die wir mit Bauschutt zu beladen hatten. ‚Naraboti, daway, daway‘, quengelte der Natschalnik und wir schleppten uns zur angewiesenen Arbeit. Unsere ausgemergelten Körper taten sich schwer, in der eisigen Kälte, während der Kirgise schnell ein Feuerchen entzündete und sich eine Machorka drehte. Seine Flinte hielt er sicher in der Hand, und seine listig dreinschauenden Augen spähten ständig der Sperrzone entlang, dass sich ja keiner dem gespannten Draht näherte. Er hätte zielsicher das Feuer auf ihn eröffnet.

Etwa eine halbe Stunde war vergangen, uns schien sie eine Ewigkeit. Auch dem Kirgisen gefiel die ihm zugewiesene Aufgabe nicht. Immer wieder sagte er ‚daway, daway‘, eine der ersten Floskeln, die wir auf Russisch gelernt hatten. Er deutete an, dass wir mach vollendeter Arbeit wieder ins Lager dürfen. ‚Skoro na barak‘, ermunterte er uns. Wir rissen uns mit letzter Kraft nochmals zusammen, auch wenn der Magen vor Hunger schmerzte.

Und da geschah es. Während wir gerade mühsam einige schwere Felsbrocken auf den Waggon wuchteten, sahen einige von uns hinter dem nächsten Schutthaufen ein altes abgehärmtes Mütterlein stehen, in dessen Antlitz der grausame Krieg nur allzu deutlich seine Spuren eingeritzt hatte. Es winkte uns zu, indem es immer wieder auf ein unordentlich eingewickeltes ‚Etwas‘ hinwies. Sie wollte es uns zukommen lassen. Vermutlich wusste sie, dass für uns heute Heiligabend war. In dem atheistischen Russland gab es ja so etwas nicht mehr.

Niemand von uns konnte sich näher aus der Sperrzone heranwagen, wollte er nicht mir seinem Leben spielen. Auch das Mütterlein durfte sich keinesfalls erwischen lassen. So war guter Rat teuer. Die ältere Frau verschwand immer wieder hinter dem Schutthaufen, wenn sie befürchten musste, vom Posten erblickt und erwischt zu werden. Es wäre schlimm für sie geworden, in der damaligen Zeit.

Als sie sich einen Augenblick sicher fühlte, huschte sie von dem Haufen vor und legte hastig das Päckchen in unsere Nähe. Sie war dann endgültig verschwunden, als hätte sie die tiefgefrorene Erde verschlungen. Wir atmeten auf, doch wie kamen wir an das ‚Etwas‘ heran?

Unser Posten aber hatte die Frau längst gesehen und auch beobachtet, dass sie ein Päckchen abgelegt hatte. Als er sich uns zuwandte und wir uns bewusst ganz eifrig in die Arbeit stürzten, um jeden Verdacht abzuwenden, rief er uns zu: ‚Daway, idi‘ (was heißt, schnell, hole es). Man war sich nicht sicher, ob er damit meinte, dass einer von uns das „Etwas“ holen sollte. Schon einmal hatten wir einen Kameraden wegen eines Stückchens Papier in der Sperrzone verloren. Keiner wollte es riskieren.

Dann legte der Posten, wie von ungefähr, seine Flinte auf die Seite, als Zeichen, dass er nicht schießen werde, und wieder rief er uns zu: ‚Daway beri‘ (also, schnell, hole es). Das war eindeutig, und einer von uns rannte an die betreffende Stelle und nahm das „Etwas“ an sich. Während er so rannte, hörten einige seine Worte ‚beri kushai‘, was bedeuten soll, dass wir den Inhalt des Päckchens aufessen sollten. ‚Prasdnik vasche prasdnik‘, damit gab er uns zu verstehen, dass er wusste, dass heute unser höchster Feiertag war, an den wir selber nicht mehr so recht glauben wollten.

Wir teilten uns brüderlich das Stückchen Brot, das sich das liebe Mütterlein ganz sicher vom eigenen Mund abgespart hatte. Saures, klebriges Brot, das uns aber besser schmeckte als das herrlichste Weihnachtsgebäck zu Hause!

Mit Worten konnten wir dem Mütterlein und dem menschlichen Wachpostenführer nicht danken. Dazu waren die damals noch bestehenden Schranken unüberwindlich. Wir taten es aber doch noch, indem wir das, was an diesem Tag deutlich geworden war, als unvergängliche Erinnerung in uns aufnahmen. Es gibt überall gute Menschen, und keine Schranken der Welt können solche Gutherzigkeit aufhalten.“

 

Bewahren wir uns den Glauben an und das Vertrauen in die Menschlichkeit und ihre grenzenlose Kraft. Keine politische Parole und keine Strafandrohung kann sie überwinden, denn sie ist – schon dem Namen nach –, was Menschen im Kern ausmacht. So hat jeder Mensch die Möglichkeit, das Licht zu sein, das er in die Welt bringen möchte und niemand kann ihn davon abhalten.

Schon einer macht den Unterschied.

 

(Titelfoto: Winterszene in Düsseldorf,
Dezember 2022)

 

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