Gedanken zum Krieg: „Jugend unterm Schicksal“ – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949 (Veröffentlicht am 11.04.2024)


I.   Literaturquellen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit

Neben Briefen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit vermitteln auch Literaturquellen aus der damaligen Zeit einen anschaulichen Eindruck davon, was Krieg für die Menschen bedeutet und welch hohen Preis alle Soldaten und ihre Familien im Krieg zu bezahlen haben – zumeist ganz im Gegensatz zu jenen, die ihn politisch angefacht und initiiert haben. Es ist von zentraler Bedeutung, die Erinnerung an die Zeiten des Krieges und an seine Folgen wach zu halten, um zu verhindern, dass die immer gleichen Mechanismen einmal mehr in Ganz gesetzt werden und sich die Geschichte mit immer fataleren Folgen wiederholt.

An den Gräbern der auf dem Soldatenfriedhof in Hürtgen beerdigten Toten stehend, hat der damalige Bundespräsident Theodor Heuss die Bedeutung des Kriegsgedenkens in seiner Rede zur Eröffnung dieses Friedhofs am 17.08.1952 wie folgt formuliert:

„Sie waren Menschen wie wir. Aber an diesen Kreuzen vernehmen wir ihre Stimmen: ‚Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.‘“

Zu diesem Zweck sollen hier unter dem Titel „Gedanken zum Krieg“ Literaturauszüge wiedergegeben werden, die den Krieg und seine Folgen beschreiben, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

II.  „Jugend unterm Schicksal“ – Eine Sammlung von Lebensläufen jugendlicher Deutscher aus Zeiten von Totalitarismus und Krieg

Im Jahr 1950 veröffentlichte der Christian Wegner Verlag in Hamburg unter dem Titel „Jugend unterm Schicksal – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949“, herausgegeben von Kurt Haß, eine Sammlung von Auszügen aus Lebensläufen, die deutsche Jugendliche mit ihrer Meldung zum Abitur in den besagten Jahren einreichten. Darin beschreiben sie jeweils ihre individuellen Erfahrungen mit der NS-Zeit, dem Krieg und den Nachkriegswirren und die Schlüsse, die sie hieraus für sich und ihre Zukunft gezogen haben. Entstanden ist eine eindrückliche Dokumentation der damaligen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aus jugendlicher Sicht, die zwischen den Zeilen nicht selten mehr erkennen lässt als die meist eher neutrale Sprache ausdrückt und die unverändert lesenswert ist, wenn es einmal mehr darum geht, den Anfängen von Totalitarismus und Krieg zu wehren.

Jürgen St., damals 21 Jahre alt, beschreibt seine Erfahrungen wie folgt (aus Kurt Haß, Jugend unterm Schicksal – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949 (1950), S. 42 ff.):

„… Nach Beendigung der Rekrutenzeit wurde unser Lehrgang nach der Heeres-Unteroffizier-Schule IV Tetschen-Bodenbach/Sudetenland verlegt. Im Mai 1944 wurde ich als frischgebackener Unteroffizier wieder in meine ehemalige Garnisonstadt zurückversetzt. Bald darauf kam ich an die Front. Ende Juni traf ich mit noch zwei anderen Lehrgangskameraden beim Gefechtsstand der 30. Infanterie-Division ein, der sich zwischen Pleskau und Ostrow an der Welikaja befand. Die ersten Granaten heulten gleich über unsere Köpfe hinweg, die wir instinktmäßig einzogen. Dies hatte ein leichtes Lächeln bei den alten Frontkämpfern zur Folge, die nur mit dem Kopf schüttelten und nicht begreifen konnten, dass wir jungen Kerle schon Unteroffiziere waren. Und wie recht hatten diese Männer!

In der Heimat war es mir schon unsagbar peinlich, wenn ich von einem älteren Soldaten, der sich bereits ausgezeichnet hatte, gegrüßt wurde; doch hier vorne im Dreck war es Gottseidank anders. Hier entschieden nicht Lametta und gut geputzte Stiefel und Koppel, sondern vorbildliche Leistungen und Bewährungen vor dem Feind machten den Frontsoldaten aus. Deshalb wurden wir einem Gefreiten, der schon längere Zeit vorne war, unterstellt und mussten sehr oft nachts mit als Späh- oder Stoßtrupp. Da wir die Gefahr noch nicht kannten, benahmen wir uns anfangs ziemlich leichtsinnig und verwegen. Aber allzu lange dauerte der Stellungskampf nicht.

Am 20. Juli 1944 — von dem Anschlag auf Hitler erfuhren wir erst am Abend — kam kurz vor Mitternacht der Befehl, die Stellung abschnittweise zu räumen. ‚Die letzten Zuckungen‘, meinte mein Gruppenführer. Ich verstand ihn damals noch nicht. Seit diesem Tage begann der Rückzug. In den ersten Tagen verlief alles planmäßig wie daheim auf dem Truppenübungsplatz. Sobald der Russe aber unsere schwache Lage erkannt hatte, prallte er mit einer unheimlichen Wucht auf unsere Hauptkampflinie. Der 10. August war der schwarze Tag der 30. Division. Auf der gesamten Linie begann um 4.30 Uhr ein Trommelfeuer in einem bisher unbekannten Ausmaße. Bis 5.45 Uhr bebte die Erde. Mir kamen diese 75 Minuten wie eine Ewigkeit vor. Links und rechts von mir hörte ich verzweifelte Hilferufe von Verwundeten, die sehr bald verstummten. Vor mir griff der Russe in breiter Linie mit Panzern und Infanterie an. Von unserer Seite fiel kein Schuss, Ja, war die Welt denn noch normal?

Kurz entschlossen sprang ich aus meinem Deckungsloch, um Verbindung nach links aufzunehmen. Träumte ich oder sah ich richtig? Keiner der Kameraden war mehr vorzufinden. Der gesamte Graben von Granaten durchwühlt, hier und da lag ein Gefallener. Ich weiß nicht mehr, was ich in diesen Augenblicken getan habe, ich erinnere mich nur noch, dass ich wie ein gehetzter Hase auf einer Treibjagd im Zickzack durch ein hochreifes Kornfeld lief, von Russen gejagt. Wie einem in solcher Situation zumute ist, kann, glaube ich, nur der empfinden, der Ähnliches miterlebt hat. Nach zweistündigem Durchirren eines Waldes begegnete ich dem ersten deutschen Soldaten. Vor Freude kamen mir die Tränen in die Augen. Nach einer kurzen, mir unvergesslichen Begrüßung marschierten wir weiter, und der Zufall wollte es, dass ich bald darauf meinen Kompaniechef traf, der mir dann von dem Ende unserer Kompanie erzählte. Meine beiden Lehrgangskameraden waren bei diesem Trommelfeuer auch gefallen.

Bis spät abends marschierten wir Richtung Westen. Alles versuchte sich zu retten und irrte planlos im Gelände umher.

Die Führung war kopflos geworden. Artilleristen, mit denen wir sprachen, erzählten von den wahnsinnigen Befehlen, dass sie ihre Geschütze sprengen müssten; Panzerfahrer schimpften auf den Nachschub, der anstatt Benzin klares Wasser in Kanistern nach vorne geschleppt hätte; Kanoniere der Nebelwerfer berichteten, dass die erhaltene Munition verschiedene Kaliber hätte. Stündlich kamen nun Unglücksmeldungen, so dass manche die Vernunft verloren und bei der nächsten Gelegenheit überliefen. Dieser Zustand dauerte eine Woche, bis dann eine Auffanglinie bezogen wurde. Der Russe, dem das Siegen in diesen Tagen zu leicht gemacht worden war, nahm unsere Stellungen nicht ernst und wurde leichtsinnig. Dies musste er mit schwersten Opfern bezahlen; doch am nächsten Morgen, es war der 18. August, kam das erwartete Kontra in Form eines kurzen, heftigen Trommelfeuers. Hierbei wurde ich am linken Ringfinger leicht verwundet. Da der Knochen gesplittert war, wurde ich ins Feldlazarett Fellin geschickt. Nach zehntägigem Aufenthalt in drei verschiedenen Lazaretten meldete ich mich am 29. August beim Chef meiner Kompanie wieder zurück. Die Kompanie, die noch vier Mann zählte, war inzwischen einer anderen zugeteilt.

Während der weiteren Absetzbewegungen, die entlang der Rigaer Bucht durch Riga, Mitau, Goldingen und Schaulen verliefen, führte ich eine Gruppe. Allmählich wurde der Kessel in Kurland geschlossen, und ein verzweifelter Kampf begann. In den nun folgenden Wochen lernte ich den Krieg in seiner schrecklichsten Vollendung kennen. Nahkampf wechselte mit Trommelfeuer, Sturmangriff mit Spähtrupp. Als ich am 29. Oktober zum zweiten Male leicht verwundet wurde, diesmal an der rechten Wade, am Gesäß, an der Brust und am rechten Finger, war ich froh, dass ich für kurze Zeit aus dem Schlamm heraus sein konnte.

Nachdem ich seit dem 15. November wegen Ausfalls des Zugführers dessen Zug führte, wurde ich am 12. Dezember zum Regimentsgefechtsstand befohlen, wo mir das EK I, das Infanteriesturmabzeichen in Silber und das Verwundetenabzeichen sowie die Nahkampfspange verliehen wurden. Gleichzeitig wurde ich zum Fahnenjunker-Unteroffizier ernannt und hatte somit die Frontbewährung erfüllt.

Nie ist mir ein Abschied so schwer geworden wie damals am 13. Dezember 1944, da ich wusste, dass ich meine Kameraden nie wiedersehen würde. In Libau erlebte ich dann am 14. Dezember zum letzten Male die gewaltige materielle Überlegenheit des Russen, als er mit 300 Bombern den Hafen angriff. Wie froh aber war ich, als ich wieder auf deutsche Erde treten durfte! Bis zum Beginn des nächsten anlaufenden Lehrganges auf der Kriegsschule war ich Ausbilder bei einer ROB [Reserveoffiziersbewerber]-Kompanie. Anfang Februar kam dann endlich die Versetzung zur Kriegsschule I nach Dresden. Auf der Fahrt dorthin sah ich das unbeschreibliche Flüchtlingselend und verfluchte innerlich die Führung, dass sie es hatte so weit kommen lassen, anstatt den Mut zu fassen, ihre Unterlegenheit einzugestehen. Und wie ging es auf der Kriegsschule zu?

Nationalsozialistischer Führungsunterricht stand an erster Stelle, dann Ordnungsübungen und Sport, und das Wichtigste, die Taktik, wurde kurz nebenbei erwähnt. Oft dachte ich an das Wort meines gefallenen Gruppenführers: ‚Die letzten Zuckungen!‘ Wie recht hatte er gehabt!

Laut Führerbefehl sollten zur Aufstellung von 3 Divisionen von der Kriegsschule I die Unterführer gestellt werden. Innerhalb von acht Tagen waren diese Divisionen in Döberitz geschaffen und wurden in Eile an die Westfront geworfen. So wurde ich am 10. April mit einem Infanteriezuge in der Nähe von Blankenburg (Harz) eingesetzt. Nach zehn entbehrungsreichen und harten Tagen wurde unser Bataillon aufgelöst. Mit einem Kameraden versuchte ich nach Nordosten aus dem Harzkessel zu entweichen, um mich anschließend nach Holstein durchzuschlagen. Es sollte aber anders kommen. Am 27. April wurden wir beide von umherschweifenden Polen umstellt und ausgeplündert und anschließend von amerikanischen Posten abgeführt. Deutschlands Zusammenbruch erlebten wir in einem Gefangenenlager bei Wesel (Rhein). Die nun folgende Zeit war für mich die schmachvollste meines Lebens. Oft schämte ich mich, Deutscher zu sein, wenn ich zuschauen musste, wie Ehemänner gegen zwei Zigaretten ihre Ringe (…) eintauschten oder ehemalige deutsche Soldaten ihre Auszeichnungen einem der vielen Posten gegen Genussmittel zuwarfen oder wie deutsche Männer unter den Wachtürmen sich sammelten und schmachtend auf die Kippen der Wachmannschaften lauerten.

Ich schildere dieses mein Erleben des Krieges so ausführlich, weil es mich ungemein nachhaltig beeindruckt hat und mein Leben in grundlegend andere Bahnen gelenkt hat.

Wie standen wir Jungen, die wir von der Schulbank kamen, diesem Erlebnis so fremd gegenüber, und wie waren wir plötzlich ernüchtert durch die Rohheit, Grausamkeit und Gewalttätigkeit des modernen Krieges! Was waren uns doch für falsche Begriffe von Ehre und Heldentum, um nur zwei der sogenannten soldatischen Tugenden zu nennen, anerzogen worden! Uns Jungen, die wir ohne gültige Reifeprüfung von der Schulbank herunter Soldat geworden waren, brach mit dem traurigen Kriegsende eine Welt voller falscher Ideale zusammen, zu der wir uns gläubig und ehrlich bekannt hatten. Jetzt galt es, nicht dem Verlorenen nachzutrauern und dabei in ein Nichtstun und Abwarten zu verfallen, sondern sich entschlossen einem neuen Ziele zuzuwenden …“

 

Das machtvollste Mittel gegen die Wiederholung der Geschichte sind Erinnerung und Gedenken.

 

(Titelfoto: Gedenkglocke auf dem Ehrenfriedhof Bischofsgrün,
September 2023)

 

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