Gedanken zum Krieg: Reinhard Mey – Sei wachsam (Veröffentlicht am 03.06.2024)

Einer der profiliertesten deutschen Liedermacher ist Reinhard Mey (geb. am 21.12.1942 in Berlin). In verschiedenen Stücken übt er in pointierter Form Gesellschaftskritik und warnt vor Demagogie, Totalitarismus und Krieg. Bereits im Jahr 1996 veröffentlichte er ein Werk mit dem Titel „Sei wachsam“, in dem er das Prinzip des „Wehret den Anfängen“ in sehr treffender Weise zeitlos in Worte fasste. Er beschrieb darin schonungslos einige politische Herrschaftsmechanismen und rief zu Wachsamkeit, Mut und aktivem Gebrauch der Freiheitsrechte auf.

Ein Lied von höchster Aktualität.

 

Sei wachsam

Ein Wahlplakat zerrissen auf dem nassen Rasen,
sie grinsen mich an, die alten aufgeweichten Phrasen,
die Gesichter von auf jugendlich gemachten Greisen,
die dir das Mittelalter als den Fortschritt anpreisen,
und ich denk′ mir, jeder Schritt zu dem verheißenen Glück,
ist ein Schritt nach ewig gestern, ein Schritt zurück.
Wie sie das Volk zu Besonnenheit und Opfern ermahnen,
sie nennen es das Volk aber sie meinen Untertanen.
All das Leimen, all das Schleimen ist nicht länger zu ertragen,
wenn Du erst lernst zu übersetzen, was sie wirklich sagen,
der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:
„Halt′ Du sie dumm, ich halt‘ sie arm!“

 

Sei wachsam,
präg‘ Dir die Worte ein!
Sei wachsam,
und fall nicht auf sie rein!
Pass auf, dass Du Deine Freiheit nutzt,
die Freiheit nutzt sich ab, wenn Du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
merk Dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
bewahr‘ Dir Deinen Mut.
Sei wachsam,
und sei auf der Hut!

 

Du machst das Fernsehen an, sie jammern nach guten, alten Werten,
ihre guten, alten Werte sind fast immer die verkehrten,
und die, die da so vorlaut in der Talk-Runde strampeln,
sind es, die auf allen Werten mit Füßen rumtrampeln.
Der Medienmogul und der Zeitungszar,
die schlimmsten Böcke als Gärtner, na wunderbar!
Sie rufen nach dem Kruzifix, nach Brauchtum und nach guten Sitten,
doch ihre Botschaften sind nichts als Arsch und Titten.
Verrohung, Verdummung, Gewalt sind die Gebote,
ihre Götter sind Auflage und Einschaltquote.
Sie biegen die Wahrheit und verdrehen das Recht,
so viel gute alte Werte, echt, da wird mir echt schlecht!

 

Sei wachsam, …

 

Es ist ′ne riesen Konjunktur für Rattenfänger,
für Trittbrettfahrer und Schmiergeldempfänger,
‘ne Zeit für Selbstbediener und Geschäftemacher,
Scheinheiligkeit, Geheuchel und Postengeschacher.
Und die sind alle hochgeachtet und sehr anerkannt,
und nach den Schlimmsten werden Plätze und Flugplätze benannt.
Man packt den Hühnerdieb, den Waffenschieber lässt man laufen,
kein Pfeifchen Gras, aber ′ne Giftgasfabrik kann Du hier kaufen.
Verseuch‘ die Luft, verstrahl das Land, mach ungestraft den größten Schaden,
nur lass Dich nicht erwischen bei Sitzblockaden!
Man packt den Grünfried, doch das Umweltschwein genießt Vertrauen,
und die Polizei muss immer auf die Falschen draufhau‘n.

 

Sei wachsam, …

 

Wir haben ein Grundgesetz, das soll den Rechtsstaat garantieren,
was hilft‘s, wenn sie nach Lust und Laune dran manipulieren.
Die Scharfmacher, die immer von der Friedensmission quasseln,
und unterm Tisch schon emsig mit dem Säbel rasseln?
Der alte Glanz in ihren Augen beim großen Zapfenstreich,
Abteilung kehrt, im Gleichschritt marsch, ein Lied und Heim ins Reich!
„Nie wieder soll von diesem Land Gewalt ausgehen!“
„Wir müssen Flagge zeigen, dürfen nicht beiseite stehen!“
Rein humanitär natürlich und ganz ohne Blutvergießen,
Kampfeinsätze sind jetzt nicht mehr so ganz auszuschließen.
Sie ziehen uns immer tiefer rein, Stück für Stück,
und seit heute früh um fünf Uhr schießen wir wieder zurück

 

Sei wachsam, …

 

Ich habe Sehnsucht nach Leuten, die mich nicht betrügen,
die mir nicht mit jeder Festrede die Hucke voll lügen.
Und verschon‘ mich mit den falschen Ehrlichen,
die falschen Ehrlichen, die wahren Gefährlichen!
Ich habe Sehnsucht nach einem Stück Wahrhaftigkeit,
nach einem bisschen Rückgrat in dieser verkrümmten Zeit.
Doch sag die Wahrheit und Du hast bald nichts mehr zu Lachen,
sie werden Dich ruinieren, exekutieren und mundtot machen.
Erpressen, bestechen, versuchen Dich zu kaufen,
wenn Du die Wahrheit sagst, lass draußen den Motor laufen.
Dann sag‘ sie laut und schnell, denn das Sprichwort lehrt:
Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd!

 

Sei wachsam, …

 

Und sei auf der Hut!

Pass bloß auf!

 

(aus dem Album „Leuchtfeuer“ [1996])

 

 

(Titelfoto: Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn/Holland,
Mai 2023)

 

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