Gedanken zum Krieg: Werner Bergengruen – Die Lüge (Veröffentlicht am 07.06.2024)
Die Lüge
Wo ist das Volk, das dies schadlos an seiner Seele ertrüge?
Jahre und Jahre war unsre tägliche Nahrung die Lüge.
Festlich hoben sie an, bekränzten Maschinen und Pflüge,
sprachen von Freiheit und Brot, und alles, alles war Lüge.
Borgten von heldischer Vorzeit aufrauschende Adlerflüge,
rühmten in Vätern sich selbst, und alles, alles war Lüge.
Durch die Straßen marschierten die endlosen Fahnenzüge,
Glocken dröhnten dazu, und alles, alles war Lüge.
Nicht nach totem Gesetz bemaßen sie Lobspruch und Rüge,
Leben riefen sie an, und alles, alles war Lüge.
Dürres sollte erblühn! Sie wussten sich keine Genüge
in der Verheißung des Heils, und alles, alles war Lüge.
Noch das Blut an den Händen, umflorten sie Aschenkrüge,
sangen der Toten Ruhm, und alles, alles war Lüge.
Lüge atmeten wir. Bis ins innerste Herzgefüge
sickerte, Tropfen für Tropfen, der giftige Nebel der Lüge.
Und wir schrien zur Hölle, gewürgt, erstickt von der Lüge,
dass im Strahl der Vernichtung die Wahrheit herniederschlüge.
(aus: Werner Bergengruen, Dies Irae – Eine Dichtung (1946), S. 7)
Werner Bergengruen (geb. am 16.09.1892 in Riga/Lettland, gest. am 04.09.1964 in Baden-Baden) war ein deutsch-baltischer Schriftsteller, er war einer der bekanntesten und beliebtesten Autoren sowohl während der NS-Zeit als auch in der frühen Bundesrepublik.
Zwar national-konservativ eingestellt, stand er dem Nationalsozialismus aufgrund seines christlich-humanistischen Weltbildes distanziert gegenüber, ohne diesen offen abzulehnen. 1937 aufgrund angeblich mangelnder Eignung zur Mitwirkung am „Aufbau der deutschen Kultur“ durch schriftstellerische Veröffentlichungen aus der „Reichsschriftumskammer“ ausgeschlossen – die Mitgliedschaft war Voraussetzung für eine berufliche Betätigung auf dem Gebiet des Schrifttums –, durfte er aufgrund einer „Dauersondergenehmigung“ dennoch publizieren. Zwar wurden sein Gedichtband „Der ewige Kaiser“ (1937) und der Roman „Am Himmel wie auf Erden“ 1940 verboten und ein Rundfunk- sowie Vortragsverbot gegen ihn verhängt, etliche andere seiner Werke durften jedoch nicht zuletzt aufgrund seiner Popularität als Autor erscheinen.
Nach der Zerstörung seines Hauses in München-Solln im Jahr 1942 übersiedelte er nach Achenkirch in Österreich und kehrte nach Stationen in der Schweiz und Italien 1958 nach Deutschland zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte.
Das hier zitierte Gedicht ist seinem Werk „Dies Irae – Eine Dichtung“ entnommen, das – im Sommer 1944 verfasst – erst nach Kriegsende erschien und sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland während der NS-Zeit dichterisch auseinandersetzt. „Dies Irae“ bedeutet „Tag des Zorns“, gewählt vermutlich in Anlehnung an eine mittelalterliche Hymne über den Tag des Jüngsten Gerichts, die seinerzeit in der kirchlichen Liturgie als Teil der Totenmesse gesungen wurde und wohl sinnbildlich für eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus zu verstehen ist.
(Titelfoto: Margeriten und Grabkreuze auf dem
Soldatenfriedhof in Wallendorf, Mai 2024)
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