Feldpostbriefe: Briefe des deutschen Soldaten Harry Mielert aus Russland, Winter 1943 (Veröffentlicht am 09.12.2024)
(Quelle: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939 – 1945, S. 297 ff.):
„Brückenkopf Gomel, 1. Oktober 1943
Das Schlimmste war vor vier Tagen, als ich einen Ort mit vier Männern gegen fünf anrollende Panzer mit aufgesessener russischer Infanterie verteidigen musste und den Befehl hatte, diese Stelle nicht zu verlassen bis auf ein verabredetes Zeichen. Es war grausam. Die Truppe hatte drei Kilometer weiter rückwärts eine neue Stellung bezogen. Ich lag mit den paar Männern auf verlorenem Posten; rechts und links ging der Russe bereits vor. Aus nächster Nähe bekämpften wir die Infanterie auf den Kampfwagen, aber die dröhnenden Stahlkolosse brausten gegen uns heran, rollten durch, schossen aus allen Rohren und teilten sich dann, um uns in die Zange zu nehmen.
In der darauffolgenden Nacht lösten wir uns wieder vom Feind, schossen im Schutz der Dunkelheit und im Wald sieben Panzer mit Panzerkanonen ab, zum T eil aus 20 Metern Entfernung, und hatten am nächsten Tag etwas Luft. Aber der Russe hatte uns schon von beiden Seiten umgangen. Wir brachen an einer Stelle durch, um den Fluss zu erreichen, hinter dem Gomel liegt, aber der Russe hatte schon vor uns alle Brücken zerstört. Jetzt liegen wir diesseits des Flusses, bilden einen Brückenkopf und bauen eine neue Brücke. Die neugebackenen Leutnants dieses Sommers sind schon beinahe alle wieder ausgefallen. Ich gehöre zu den ganz wenigen Offizieren unserer Division, die noch seit Anfang dabei sind.
1. Dezember 1943
Niemand als der Beteiligte kann verstehen, was hier vorgeht. Dadurch, mein Liebes, will ich Dich nicht ausschließen von einem »Erleben«, es ist kein Erleben, es ist nur eine furchtbare Tatsache, die man aushalten muss.
Ich bin gejagt worden, wie man nur ein ganz waidwundes Tier jagt, habe fünf Stunden im Sumpf gesessen, in eiskaltem Wasser bis zum Leib, unter dauerndem Beschuss von Panzern, die mir und einer kleinen Gruppe von Männern dorthin nicht folgen konnten, bis die Nacht hereinbrach. Wir hatten Kameraden befreien wollen, die schon elend umgekommen waren. Wir mussten in der Nacht den Sumpf durchqueren, gerieten vor der eigenen Linie noch in deutsches Feuer und sind nun wieder beim alten Haufen. Es ist hier ein erbittertes Ringen im Gange, von dem niemand etwas weiß.
Wenn die Kameraden so fallen oder verwundet werden, wundere ich mich immer und frage: wann ich? oder wofür mich der liebe Gott aufbewahrt? Ich suche den Sinn und gebe ihn, – indem ich mir der Menschlichkeit dieser Sinngebung bewusst bin, aber auch diese Menschlichkeit als von Gott erschaffen anerkenne –, dass ich dies alles erleben soll und in mir durcharbeiten. Ich soll später etwas über dies Geschehen sagen, vielleicht nicht über den Krieg, aber über das menschliche Wesen, das in diesem Krieg hervortritt.
6. Dezember 1943
Denk Dir ein unendliches, kahles Feld, hartgefroren, mit leichtem Schnee bedeckt, darüber pfeift ein schauderhafter Wind hin und bläst den dünnen Schnee hinter die Schollen, so dass die gefrorene Ackerkrume frei wird. Unsere Männer liegen auf diesem Feld fest verkrallt. Mit dem kleinen Infanteriespaten hacken und kratzen sie die steinige Erde auf, bis sie auf ungefrorenes Erdreich stoßen; da wird ein kleines Loch gegraben, in das sich ein oder zwei Männer hocken können. Da stehen sie drin, der eine wacht, der andere dämmert vor sich hin. Es ist eiskalt, nur die Körperwärme heizt. Der Feind erkennt schnell die Linie und schießt mit Granatwerfern auf das Feld. Die Männer stehen aufmerksam und schießen auf den ankommenden Feind. Wenn die Panzer die russische Infanterie schützen, kann man sich nur tief ducken und die Infanteristen im Nahkampf erledigen. Das Geschrei eines Getroffenen ist furchtbar, ohne Widerhall in der Einöde, es hat keiner Zeit, teilzunehmen. Jeder vertraut nur der Waffe und jener entsetzlichen Göttin Fortuna, von der diese Männer nicht einmal mehr den Namen kennen. – In der Nacht bin ich von Loch zu Loch gekrochen, die Männer brauchen Stärkung. Am Tag waren von 220 Mann unseres Bataillons 106 durch Wunden oder Tod ausgefallen. Wir sprachen nicht vom Tag, sondern von den Liebsten zu Haus und wann wir sie wiedersehen werden. Wir weinten nicht, und unser Äußeres erschien hart und wie eine bizarre Personifikation des rein Männlichen, Kalten, Kriegerischen. Aber unsere Herzen sind heiß und glühen für die Lieben in der Heimat.
9. Dezember 1943
[Letzter Brief]
Das Schlachtfeld erregt stets von neuem ein Schaudern in mir. Ich mag die Toten und das spritzende, strömende Blut nicht mehr sehen. Aber ich muss daneben ausharren wie einer, dem man dies zur Aufgabe gemacht hat.
Du hast einmal wunderbar gesagt, dass uns das beiderseitige Alleinsein ja wiederum zu Gemeinsamen macht. Das ist ein tiefes Erleben, dies Über-die-Ferne-hinweg-einander-Zuneigen und Suchen. Der Ring ist offen in zwei Teilen, aber beide Hälften sind einander so zugeneigt, dass es die Ferne ist, die ihn trennt und schließt. Wir werden ihn wieder schließen, wenn die nächste prüfende Zeit über uns hinweggegangen sein wird.“
Oberleutnant Harry Mielert, geb. am 27.12.1912 in Sprottau/Schlesien, Angehöriger des GrenRegt 528, fiel am 15.12.1943 nordwestlich von Shlobin/Russland.
(Titelfoto: Soldatenfriedhof Bleialf,
November 2023)
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