Menschlichkeit im Krieg: „Once more oder: Weihnachten in der Gefangenschaft“ von Hermann Kuhlmann (Veröffentlicht am 17.12.2024)

In einer Publikation des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge berichtet Hermann Kuhlmann über ein Erlebnis aus seiner Kriegsgefangenschaft (Hermann Kuhlmann, „Once more oder: Weihnachten in der Gefangenschaft“, aus: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit (8. Aufl., 2017), S. 69 ff.):

 

„Im letzten Krieg kam ich als junger Soldat in Frankreich in die Gefangenschaft. Wir lebten in einem großen Zeltlager, das schwer bewacht wurde. Um das Lager herum war hoher Stacheldraht gezogen. Die Wachposten liefen ständig auf und ab und passten auf, dass niemand flüchtete. Hatten wir außerhalb des Lagers zu arbeiten, wurden wir ebenfalls von Soldaten streng bewacht.

Unter den Wachposten war einer, der uns ständig antrieb, anschrie und uns das Leben noch schwerer machte, als es ohnehin schon war.

Eines Tages – es war kurz vor Weihnachten – warteten wir auf den Lastwagen, der uns wieder in das Lager zurückbringen sollte. Wir waren müde, hatten Hunger und wurden ungeduldig, als der Lastwagen sich verspätete. Ein leises Murren machte sich breit. Weihnachten stand vor der Tür, und die meisten waren mit den Gedanken sicher bei ihren Lieben daheim. In dieser Stimmung fing einer von uns leise an zu singen – ein Weihnachtslied. Nach ein paar Takten sangen gleich einige mit. Auf einmal war noch eine zweite Stimme und gleich darauf auch noch eine dritte Stimme zu hören. Als dann nach kurzer Zeit alle mitsangen, schwoll der Gesang an wie eine Kirchenorgel. Es klang sehr feierlich und ging uns unter die Haut. Vergessen waren Hunger und Müdigkeit.

Weit klang das Lied durch die stille Nacht, als sollte es bis in die Heimat fortgetragen werden. Wir standen in einem offenen Kreis um eine kleine Laterne herum und sangen, als ob alles aus uns heraus wollte: unser Heimweh, unser Verlangen nach Freiheit und unsere Sehnsucht nach Hause.

Für einen Augenblick vergaßen wir unsere Lage und den bösen Wachposten. Die Gedanken hatten sich gewendet. Doch auch bei dem Wachposten wendete sich etwas. Er war mucksmäuschenstill und hörte uns mit großer Andacht zu. Als das Lied zu Ende war, klatschte er Beifall und sagte: ‚Once more‘ (noch einmal). Wir sangen noch einmal, und wieder sagte er: ‚Once more‘. Dann sangen wir ein anderes Weihnachtslied, wobei der Posten sogar mitbrummte. Seine Wangen röteten sich. Jedesmal, sobald ein Lied zu Ende war, klatschte er Beifall. Und immer kam danach: ‚Once more‘.

Endlich kam der Lastwagen. Der Fahrer hatte es wegen der Verspätung eilig. Doch der Wachposten überredete ihn dazu, sich wenigstens ein Weihnachtslied anzuhören. Nach einigem Zögern willigte der Fahrer ein – aber nur für ein Lied! Doch als das Lied verklungen war, sagte auch der Fahrer: ‚Once more‘. Diese Aufforderung war noch oft zu hören. Zum Schluss sangen wir den Choral ‚Macht hoch die Tür, die Tor macht weit‘.

Wollen diese Worte ausdrücken, dass wir unsere Herzen öffnen sollen, so müssen sie wohl bei dem Wachposten in diesem Sinne etwas bewirkt haben. Nach diesem Abend war er nämlich wie ausgewechselt. Er trieb uns nicht mehr an, und kein grobes Wort kam mehr über seine Lippen. Fortan war er der freundlichste unter allen Wachposten.

Am Heiligabend – zwei Tage nach unserem nächtlichen Konzert – gab mir der Wachposten sogar eine Zigarette. Was eine Zigarette für einen Raucher in der damaligen Situation bedeutete, kann sich jeder leicht vorstellen. Noch mehr bedeutete mir aber die Tatsache, dass der einst so böse Wachposten durch unser Singen von Weihnachtsliedern sein Vorurteil gegen – über den Gefangenen so plötzlich aufgab, ja, dass sogar ein herzliches Verhältnis entstand.“

 

(Titelfoto: Weidezaun mit Spinnennetz bei Vossenack,
Oktober 2019)

 

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