Feldpostbriefe: Letzte Briefe aus Stalingrad – Brief eines namenlosen deutschen Soldaten über das Prinzip des „Wehret den Anfängen“ (Veröffentlicht am 21.02.2025)
Ein namenloser deutscher Soldat äußert sich in einem Brief zu den ihm zuvor übermittelten „guten Ratschlägen“ (Quelle: Letzte Briefe aus Stalingrad, Brief Nr. 6, S. 10 f.):
„…Bleiben Sie mir doch mit Ihren gutgemeinten Ratschlägen vom Halse. Wissen Sie denn nicht, in welche Situation Sie mich bringen? Was sind das für Worte! Ihr hättet es nicht getan, Ihr wüsstet, wie es zu machen wäre! Das hätte man so machen müssen! Was heißt das? Sie wissen, dass ich Ihrer Ansicht bin und dass wir darüber mehr gesprochen haben, als gut war; aber das kann man doch nicht schreiben. Halten Sie denn die anderen für Idioten?
Wenn ich jetzt schreibe, dann weiß ich, dass mir ja nichts passieren kann, und ich ließ wohlweislich den Absender weg, und Sie werden diesen Brief ja auf dem bekannten Wege erhalten. Selbst wenn man wüsste, wer dieses Papier beschrieb, dann wäre ich in keinem Ort sicherer als in Stalingrad. Es ist so leicht zu sagen: Lege die Waffen nieder. Meinen Sie, dass die Russen uns schonen werden? Sie sind doch ein kluger Mensch, warum fordern Sie dann nicht auch, dass Ihre Freunde die Herstellung von Munition und Kriegsausrüstung verweigern sollen.
Es ist leicht, gute Ratschläge zu erteilen; aber so geht das nicht, wie Sie sich das denken. Völkerbefreiung, Unsinn. Die Völker bleiben die gleichen, ihre Herrschaft wird wechseln, und die Außenstehenden werden immer wieder damit argumentieren, das Volk von der jeweiligen Herrschaft zu befreien. 32 wäre es an der Zeit gewesen zu handeln, das wissen Sie doch sehr gut. Und dass dieser Moment verpasst wurde, auch. Vor zehn Jahren ging es noch mit dem Stimmzettel, heute kostet es die Kleinigkeit Leben.“
Der Verlag über das Buch „Letzte Briefe aus Stalingrad“ (a.a.O., S. 67 ff.):
„Über die Herkunft der ‚Letzten Briefe aus Stalingrad‘ ließe sich eine abenteuerliche Geschichte schreiben, die Geschichte einer überorganisierten Partei- und Kriegsbürokratie mit ihren Zensoren, Schnüfflern und Bütteln. Denn die Briefe durchliefen vom Tag ihrer Beförderung aus dem Stalingrader Kessel an alle Stationen dieser Bürokratie. Man wollte aus ihnen ‚die Stimmung in der Festung Stalingrad kennenlernen‘ und ordnete deshalb im Führerhauptquartier an, die Post zu beschlagnahmen. Die Anordnung wurde als Befehl vom Oberkommando des Heeres an die Heeresfeldpost-Prüfstelle weitergegeben. Als die letzte Maschine aus dem Kessel in Nowo-Tscherkask landete, wurden sieben Postsäcke beschlagnahmt. Das war im Januar 1943. Die Briefe wurden geöffnet, Anschrift und Absender entfernt. Danach wurden sie, nach Inhalt und Tendenz geordnet, in sorgfältig verschnürten Bündeln dem Oberkommando der Wehrmacht übergeben.
Die statistische Erfassung der ‚Stimmung‘ besorgte die Heeresinformations-Abteilung und teilte sie in fünf Gruppen ein. Es ergab sich folgendes Bild:
Positiv zur Kriegführung: 2,1 %
Zweifelnd: 4,4 %
Ungläubig, ablehnend: 57,1 %
Oppositionell: 3,4 %
Ohne Stellungnahme, indifferent: 33,0 %
Nach der statistischen Erfassung und Kenntnisnahme gelangten die Briefe mit den übrigen Dokumenten über Stalingrad, mit Führeranweisungen, Befehlen, Funksprüchen und Meldungen – im ganzen etwa zehn Zentner Material –, in die Obhut eines PK-Mannes, der beauftragt worden war, ein dokumentarisches Werk über die Schlacht an der Wolga zu schreiben. Die oberste deutsche Kriegführung hätte sich gerne gerechtfertigt, aber die Sprache der Dokumente war eindeutig. So wurde das Buch verboten. ‚Untragbar für das deutsche Volk!‘ entschied der Propagandaminister. Danach wanderten die authentischen Abschriften der Briefe in das Heeresarchiv Potsdam, wo sie wenige Tage vor der Einnahme Berlins in Sicherheit gebracht und in unsere Tage herübergerettet wurden.“
(Titelfoto: Soldatenfriedhof Daleiden, Februar 2025
[Inschrift: „Vor diesem Stein gedenket unserer in aller Welt /
Lebt und vergesst uns nicht.“])
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