Zum Gedenken: Bergung gefallener Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg im Bereich Bitburg durch Gerda Dreiser (Veröffentlicht am 15.11.2021, zuletzt aktualisiert am 10.03.2023)

Eine Leserin dieser Seiten machte mich darauf aufmerksam, dass auch jenseits des Hürtgenwaldes Menschen in einer Julius Erasmus ähnlichen Art und Weise versucht haben, gefallene Soldaten zu bergen und zu identifizieren und so die quälende Unsicherheit ihrer Angehörigen zu beenden. Über Toni Latschrauner aus Meran, Lodewijk Johannes Timmermans in Ysselsteyn und Nikolai Orlow aus Nowgorod wurde bereits berichtet.

Einer dieser Menschen war auch die ehemalige DRK-Kreisbereitschaftsführerin Gerda Dreiser, die im Bereich Bitburg tätig war.

In dem ursprünglichen Post vom 15.11.2021 war hier ein Auszug aus einem Artikel von Frau Dreiser wiedergegeben worden, der dem Buch „Kriegsende 1944/1945 – Zwischen Ardennen und Rhein“ von H.-Dieter Arntz (2. Auflage [1985], S. 109 ff.) entstammt. Wie sich inzwischen herausstellte, stimmt dieser Auszug, obwohl in diesem Buch zitatweise wiedergegeben, nicht mit dem Original überein, sondern wurde teilweise verfremdet. Der ursprüngliche Post ist hier archiviert.

Das Original des Beitrags von Gerda Dreiser, die auch als Heimatschriftstellerin bekannt geworden ist, trägt den Titel „So haben wir sie gefunden …“ und wurde im ersten Heimatkalender des Kreises Bitburg aus dem Jahr 1952 auf S. 149 ff. veröffentlicht. Sie beschreibt darin ihre Erlebnisse bei der Bergung gefallener deutscher und amerikanischer Soldaten im Bereich um Wallendorf/Eifel nahe der Grenze zu Luxemburg, wo im September 1944 und im Winter 1944/45 schwere Kämpfe stattfanden.

In diesem Artikel schildert Frau Dreiser ihre Eindrücke wie folgt:

 

„Sie liegen vor mir, diese stillen Zeugen eines schicksalsschweren Kampfes. Zeugen, so stumm, doch mit tiefer, zu Herzen gehender Beredsamkeit — die letzten Habseligkeiten gefallener deutscher Soldaten aus dem Westwallgebiet. Verrostete Erkennungsmarken, erdüberkrustete Taschenmesser, Münzen, Uhren mit vergilbten Zifferblättern, Stücke eines Rosenkranzes, von der Erdfeuchtigkeit gequollene Brieftaschen, ein kleines rotes Amulett, ein Soldbuch mit einem großen Blutfleck — sie alle erzählen von Lebensschicksalen, die sich hier im hart umkämpften Eifelgebiet — im Kreise Bitburg — an jungen, hoffnungsvollen Menschen erfüllt haben.

Aus tiefen Wäldern, von weiten Hängen des Eifelgrenzgebietes, aus den Wiesen und Feldern haben wir sie hergeholt, um den wartenden Angehörigen in der Heimat — bei uns und bei den andern — die quälende Ungewissheit zu nehmen und harten Schmerz — aber auch erlösenden Trost zu bringen. Eine verblasste Inschrift auf einem schiefen Kreuz aus Knüppelholz ist oft das einzige, das uns den Weg zeigt. Mühsam entziffern wir: ‚Hier ruht ein unbekannter Soldat‘ oder nur das einfache Wort ‚Unbekannt‘. Lasst mich zu Euch sprechen von jenen unbekannten Gräbern im Eifelgebiet, an denen selten der Schritt eines Menschen vorübergeht.

Auf der weiten Höhe im Bereich der Roten Zone liegt der Bunker. Wer kennt ihn noch, müsste man fragen, wie er da liegt, zerrissen, geborsten, in Stücke gespalten. Aber nicht das berührt uns, dass er uns anstarrt wie ein versteinertes Untier, sondern, dass er gleichsam erdrückt wird von zwei kleinen verwitterten Holzkreuzen. Zwei deutsche Soldaten ruhen hier nach hartem Kampf am 19. September 1944.

Bei dem ersten findet sich ein kleiner brauner Rosenkranz, der ihm frommer Begleiter im Kriege war, und außer seinem durchlöcherten Stahlhelm nichts mehr. Der zweite trägt die Erkennungsmarke bei sich — das bisschen Blech, das nun einer letzten Frage schwere Lösung wird. Hoffend und zagend schauen die beiden Gräber nach Westen — nach der Heimat: ‚Ob uns wohl jemals unsere Lieben finden werden?‘

So suchen und finden wir viele Gräber an einem Tage unter dem leisen Tropfen des Regens, an dem schon wieder überwucherten Rand der Trampelpfade, entlang den schwarz versengten Todesschneisen. Immer wieder sehen wir die durchlöcherten, rostigen Stahlhelme auf schiefen Kreuzen — und wie ein freundliches Aufmuntern, dass es doch nicht nur Vergesslichkeit und Lieblosigkeit auf Erden gibt: das Blumenbüschel auf dem einsamen Grab des jungen Soldaten oben auf dem Bocksberg bei Wallendorf, der als Letztes seiner irdischen Habseligkeiten seinen Spaten und das kleine ovale Blechschild der Erkennungsmarke bei sich trägt, die ihn selbst überdauert haben.

Weiter unten liegt ein Grab am Rand eines Feldes. Die Spuren des Pfluges sind einige Schollen breit von ihm entfernt. Der pflügende Bauer hat seine Pferde um diese kleine Stätte wie um ein Heiligtum geleitet, um nicht eine Wunde in die Erde zu schlagen, die so viel Not und Kampf gesehen hat.

Noch manches Grab liegt hier oben auf der Höhe, wo sich Bunker an Bunker reiht. Kalt bläst der Eifelwind über die Berge und jagt über die Stätte, die Zeuge harter Widerstandskämpfe in einer grauenvollen Zeit war und mit dem Blute so vieler junger Menschen getränkt ist. Die Männer stehen stumm an den Gräbern, und mancher von ihnen denkt an die Kameraden, die er in fremdem Land in kalte Erde gebettet hat.

Wir stampfen den Hang hinauf und finden eine andere Grabstätte, die mitten im Blumenbeet eines kleinen Gartens liegt. Ob die Mutter oder der Vater wissen, wie fern von der Heimat liebende Hände das Grab ihres Einzigen mit Blumen schmücken? Die bunten Astern — sie kennen die Betreuerin, die im Andenken an einen gefallenen Bruder dieses Grab in Obhut genommen hat. Wir finden die Erkennungsmarke, an der noch eine Medaille mit der Inschrift ‚Heilige Barbara, schütze mich!‘ hängt. Wie oft wird der junge Artillerist in den Gefahren des Krieges an seine Schutzpatronin gedacht haben. Seinen Eltern in der Heimat bringt sie den letzten Gruß von seinem Grabe.

In einer Geröllhalde liegt das nächste Grab. Schützend liegen die Steine über ihm. Das Kreuz hat keine weitere Bezeichnung als den Todestag: 16. 1. 1945. Eilig ist es gegraben, und eilig ist der Tote begraben werden. Es war wohl keine Zeit zu langem Verweilen. Nur das Kreuz muss ein Kamerad in einer Ruhepause gezimmert haben. Auch hier finden wir die Erkennungsmarke. Sie ist unleserlich, von Rost und Erde verwittert. ‚Du wirst wohl immer ein Unbekannter bleiben, du toter, deutscher Soldat an der Westgrenze.‘

Der weite schweigende Wald nimmt uns auf. Hier sind die Spuren des Krieges noch deutlicher zu sehen. Über schmale Waldwege, die nur der Jäger und das Wild kennen, werden wir geführt. An tiefen Trichtern, von Bomben in die Erde gerissen, bis an den Rand mit Wasser gefüllt, geht es vorbei. Die dunklen, ernsten Tannen, viele, viele Jahre alt, sind zum Teil nur noch Stümpfe, denn die Granaten der Rundstedt-Offensive haben ihre Kronen zerfetzt. An vielen Stellen liegen noch die Reste von Wagen und Waffen. Wir bahnen uns einen Weg in das Dickicht. Stumm schauen wir auf den kleinen Findling zu unseren Füßen, auf dem die Inschrift steht: ‚Hier starben sieben deutsche Soldaten den Heldentod.‘ Wir denken an die Schmerzenslaute, die der Wald hier verschluckt hat und die ungehört verhallten, ehe so mancher Mund verstummte und manches junge Herz den letzten Schlag tat. Hier ist alles tot. Stumm gehen wir weiter.

Wir kommen an einen Abhang, der an einer Felswand zwei Soldatengräber ‚Unbekannt‘ aufweist. Hier hat schon ein Vater vergebens nach seinem Sohn gesucht. Gleich daneben ist ein Ein-Mann-Loch, in dem ein toter Soldat, in eine Decke gehüllt und den Karabiner im Arm, stille Wacht hält. So wie die Kameraden ihn fanden, haben sie ihn begraben. Auch hier können wir nach langem Suchen die Erkennungsmarke finden und einen weiteren aus der großen Schar der unbekannten Toten ausfindig machen.

An einem der größten Bunker machen wir Halt. Der Eingang ist durch eine Bombe verschüttet worden. Die Tür ist eingedrückt. Ein Entminungskommando hat bereits die aufgestapelten Panzerfäuste und Granaten entfernt. 24 junge Menschen haben hier ihr Ende erlebt. Nebeneinander stehen ihre Särge auf dem freien Feld wie eine stumme Anklage. Vor ihnen breiten wir aus, was der Bunker jahrelang von ihnen in Verwahr hatte: Uhren, Messer, Pfeifen, Brieftaschen, Wecker, Papiergeld und Münzen, Orden und Ringe, Fotos und vieles andere, welches der Landser mit sich führte. Schaurig und unvergesslich ist dieser Anblick.

Dann geht unser Weg ein kurzes Stück die Grenzstraße entlang. Auf der gegenüberliegenden luxemburgischen Seite sehen wir starke Felswände und zu unserer Linken zwei geborstene Bunker. Niemand spricht ein Wort. Mühsam klettern wir den Hang hinunter in das Dickicht‚ von dem es heißt, dass dort noch ein Toter liegen soll. In dem Halbdunkel des Unterholzes sehen wir zunächst nichts. Plötzlich deutet mein Begleiter auf einen langen Streifen, der an einem Ast eines Baumstumpfes mit einem Knoten befestigt ist. Es ist ein Stück Verbandszeug, ehemals weiß und jetzt grau und mürbe. Eine Bedeutung hat es gewiss, und wer mag es hier wohl mit letzter Kraft angebracht haben? Auf dem Boden ist nichts zu sehen. Da — ein großes, dunkles Moospolster breitet sich über eine Stelle aus, und wir finden ihn, der wohl nach schwerer Verwundung sich hier zum letzten Schlafe niederlegte. Ein Grab konnte er nicht finden — doch die Natur deckte mit weicher Hand zu, was grausamer Menschengeist zerstörte. Niemand hat wohl das letzte Zeichen, mit dem er sich bemerkbar machen wollte, gesehen. Es ist ein Amerikaner. Sein Kamerad trägt ihn den Hang hinauf.

Wir wenden uns aus dem Walde zu dem Grabe von drei unbekannten Soldaten am Eingang des Ortes Biesdorf. Jedes Haus zeigt uns hier seine zerstörten Mauern. Kaum ist ein notdürftiges Dach vorhanden. Die über 1000jährige Kirche ist auch ein Opfer des Krieges geworden. Das Gemäuer ist zerschossen, der Kirchturm nur noch an den Umrissen zu erkennen. Doch der anliegende Friedhof mit seinen vielen Soldatengräbern spürt schon lange wieder die liebende, ordnende Hand. Die Leute hier haben das harte Schicksal der aus der Heimat Vertriebenen kennengelernt und wissen auch um fremdes Leid und fremden Schmerz. Sie helfen uns auch hier bei der Arbeit am Grabe.

Der erste Soldat ist ein junger Mann von 20-30 Jahren mit schweren Schädelverletzungen. Wir finden seine Erkennungsmarke nicht. Vielleicht hat ein Kamerad sie an sich genommen, denn er wurde an der vorbeiführenden Straße gefunden und hier beerdigt. Der Zweite ist ein Mann, der die Härten des Russlandfeldzuges erduldet hat. Das blutrote Band der Ostmedaille und die Reste seines Soldbuches sagen es uns. Es ist seine ganze Habe. Der Letzte ist in einen Soldatenmantel gehüllt, so wie er vielleicht draußen im Schnee gelegen haben mag. Sein Karabiner liegt noch neben ihm. Er trägt einen Trauring und auch das Soldbuch findet sich. Leider ist es nicht mehr lesbar. In der Rocktasche stößt man auf etwas Hartes. Es ist die Brieftasche mit einigen unleserlichen Brieffetzen. Hier steckt auch die Erkennungsmarke — und dann sehen wir in einer durchsichtigen Hülle das Bild eines glücklich lächelnden Kindergesichtes — unbeschädigt und nur am Rand etwas angedunkelt. ‚Annemarie‘, so steht auf der Rückseite in großen, ungelenken Buchstaben der vielleicht Sechsjährigen — unverwischt und gut lesbar. Wir sind ergriffen und sehen alle aneinander vorbei. Es ist das letzte Vermächtnis Deines toten Vaters, arme, kleine Annemarie!

Wir fahren wieder in den Wald zurück. An einem steilen Abhang klettern wir herunter. ‚Im Eichengrund‘ heißt der Ort, wohin wir für heute unseren Schritt zum letzten Grabe lenken. Still und einsam liegt es zwischen zwei hohen Eichen. Ein kleiner Wall von Steinen ist schützend um es errichtet. Nur die scheuen Tiere des Waldes werden hier vorübergehen. Über das Grab hinweg hat man durch eine Lichtung einen weiten Blick in das Tal. An dieser Stelle merkt man nichts vom Krieg mit seinem Morden und Brennen, seinen Wunden und Schmerzen, wenn das einsame Grab nicht wäre. Man hört nur das Murmeln der kleinen Quelle, die einige Schritte weiter munter zu Tal hüpft. Ab und zu ertönt ein kleiner schüchterner Vogellaut. Mit viel Liebe ist dieses Grab wohl von den Kameraden ausgesucht werden. Vielleicht von solchen, die an einer anderen Stelle des Waldes todwund zu Boden sanken. Das Holzkreuz ist in den Steinhügel gestellt, der Querbalken mit Kabeldraht fest umwickelt. Es trägt den Stahlhelm und die Bezeichnung der Erkennungsmarke. Wir stören den stillen Schläfer unter den Eichen und erhalten die letzte Gewissheit. Wir bringen ihn zu seinen Kameraden, legen auf sein Grab ein paar grüne Zweige und grüßen alle, die hier für die Heimat starben.

‚Nun haben wir Euch alle gefunden, Ihr toten Soldaten, die Ihr an der Grenze des Vaterlandes für uns gefallen seid. In langen, stummen Reihen liegt Ihr auf dem Soldatenfriedhof am Kapellenberg in Wallendorf, mitten unter dem Schatten des Kreuzes, das weithin über die Grenzen hinweg von Eurem Opfertod künden soll. Mann an Mann habt Ihr — 471 an der Zahl — als Kameraden ein ewiges Ruherecht gefunden. Euren Familien können wir die Tränen stillen, die um das schwere Wort ‚Vermisst‘ geweint werden. Und Ihr bittet nicht nur um ein Gedenken der Größe Eures Opfertodes. Nein — Mahner seid Ihr für uns und die kommenden Geschlechter, auf dass wir immer gewärtig sind, wohin menschliche Verblendung und menschliche Grausamkeit das deutsche Volk geführt haben.‘

Wisset, dass sie, die tief in der Erde nun schlafen,
Für niemanden fielen vergeblich und niemand zum Ruhm.
Gott, nahm sie alle, die in den Schlachten sich trafen,
Freunde und Feinde, heim in ihr Eigentum.“

 

Gerda Dreiser, geboren am 16. Februar 1906 in Malberg, wurde am 12. Mai 1955 vom Internationalen Roten Kreuz in Genf mit der Florence-Nightingale-Medaille ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung des Roten Kreuzes. Im Jahr 1977 wurde ihr auch das Bundesverdienstkreuz verliehen. Frau Dreiser verstarb am 6. Januar 1991 im Alter von 84 Jahren in Bitburg.

 

(Titelfoto: Soldatenfriedhof Wallendorf um 1955
[Quelle: Archiv Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., Kassel],
Gerda Dreiser um 1960
[Quelle: Neu, Bitburger Persönlichkeiten (2006), S. 147 (153), Privataufnahme])

 

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