Feldpostbriefe: Brief des deutschen Soldaten Tobias Todtschinder aus Russland an seine Tochter (Veröffentlicht am 17.07.2022)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

Brief des deutschen Soldaten Tobias Todtschinder an seine Tochter
(Quelle: v. Bebenburg, Ein Vermächtnis – Briefe und Gedichte gefallener Soldaten des Zweiten Weltkrieges [1955], S. 55 ff.):

„Meiner lieben Helga!

Auf Wache stand ich, in Feindesland. Sternklar war die Nacht. Da dacht‘ ich an Dich und an den Kampf, in dem wir stehen; da dacht‘ ich nach über den Wert und den Sinn des Lebens. Viele fielen schon, darunter auch mancher, den ich kannte. Vor einer Stunden noch lebte er, ja, lachte vielleicht, und dann war mit einem Male sein Leben beendet. Ich sah es und erlebte es, und mit mir all die anderen, die um mich sind. Jeder Augenblick kann unser letzter sein, jedes Handeln unser letztes, und jedes Wort von uns kann in den Ohren der anderen als unser letztes fortklingen. Dann steht irgendwo am Weg ein notdürftig gezimmertes Holzkreuz; der Stahlhelm deckt sein oberes Ende: geb. … gefallen … Und was lag dazwischen? Was wurde ausgelöscht? – Was ist nicht mehr? – Was fand ein Ende? – War nicht der Heldentod, der Einsatz und das Ende dieses Lebens das Beste an ihm? Und dieser Einsatz noch, dieses Ende. – Bei vielen war es nur befohlen! Den tiefsten Sinn ihres Opfers – und damit aber auch ihres ganzen Lebens, haben die wenigsten erfasst. Sandkörner waren und sind es. Irgendwo angeschwemmt, vom Strome mitgetrieben! – Sie kennen nicht Ziel und Sinn dieses Treibens. (Fliegeralarm!)

Sie lassen sich treiben, und nur in unwesentlichen Dingen zeigen sie ihren eigenen Willen. Wenn sie am Ende sind, dann weint irgendwo eine Frau, Kinder geraten vielleicht in Not, Eltern trauern. Aber – es liegt doch nur ein Körnchen mehr am Sand, kein Schiff geht unter, das kostbares Gut einem hehren Ziel zutrug! – Schiff zu sein und Steuermann zugleich, das sei des Lebens Sinn. Wollen sollst Du, nicht gewollt werden. Alles Streben Deines Lebens gelte einer heiligen Aufgabe, einem gewaltigen Ziel. Wenn Du am Ende bist, dann hast Du kostbares Gut ein Stück vorwärts und höher getragen. – Was kostbar ist, das sagt Dir der tiefste Grund Deines Wesens, wenn Du ihm ehrlich, wahrhaft ehrlich lauschst. Und wenn Du auch lange lauschen und suchen musst: Schon das allein ist ein Leben wert! – Ich sah ein ganzes Volk, das durchs Leben getrieben wurde und wird – und ich sah solche, die glauben, verächtlich auf solches Volk und seine Menschen herabsehen zu können, die aber selbst nur Getriebene und Gewollte sind. – Da fasst mich der Ekel – und Du wirst mich hierin einstmals verstehen. – Ob Du mit Hammer und Meißel in den Stein der Zeit Deinen Willen eingräbst, ob Du ihn offenbarst im Suchen und Finden, ob sich an Dir die Wellen der Zeit brechen und eine neue Richtung finden, oder ob einer bei Dir Rat und Hilfe findet und Halt und Vertrauen, dann, wenn er zweifelt – das ist einerlei. Aber ein Ziel und eine Aufgabe sollst Du haben zu jeder Stunde Deines Lebens – und wenn immer Du am Ende sein solltest, dann liege zwischen ihm und dem Anfang ein Weg, den Du gingst – und – wolltest.

Noch steht Dein Vater mitten im Kampf, aber der Sieg, der uns wird, er öffnet den Weg in eine gewaltige Zukunft. Unzählige Aufgaben harren unserer. –

Zeigen wir uns alle dieser kommenden Zeit würdig – auch Du.

Dein Vater.“

 

 

Gefreiter Tobias Todtschinder, geboren am 11. September 1915 in Nürnberg, fiel am 28. November 1942 in Russland.

 

(Titelfoto: Soldatenfriedhof Bensheim-Auerbach, April 2022)

 

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