Episoden des Krieges: Die Nonne von Vire, August 1944 (Veröffentlicht am 16.11.2024)

Die Episode stammt aus einem Feldpostbrief eines US-Soldaten aus dem September 1944, der in dem Buch „Behind the Lines“ von Andrew Carroll veröffentlicht wurde. In seinem Brief berichtet Leutnant James R. Penton, Angehöriger eines US-Panzerjägerbataillons, von einem Erlebnis, das sich im August 1944 während der Kämpfe um die französische Stadt Vire in der Normandie ereignete und das ihn tief beeindruckte.

Nachfolgend sein Brief (Quelle: Carroll, „Behind the Lines“, S. 147 ff. [Übersetzung aus der englischen Sprache]):

 

„3. September 1944

Liebe Mutter und Gouverneur:

Im ‚Reader‘s Digest‘ gibt es einen monatlichen Artikel mit dem Titel ‚The Most Unforgettable Character I‘ve Known‘ – oder so ähnlich. Nun, vor nicht allzu langer Zeit habe ich selbst eine unvergessliche Person getroffen………….

Meine Waffen waren auf einem kleinen Hof in der kürzlich zerstörten Stadt Vire in Stellung gebracht worden, auf dem Kamm eines schönen Bergrückens – und nur einen Steinwurf entfernt von dem Schutt- und Staubdunst, der sich über den warmen Ruinen des Geschäftsviertels der Stadt erhob.

In dieser Nacht gab es in Vire kein ‚Business as Usual‘, sondern nur ‚Nazi-Taktik as Usual‘, da die Schlächter von Geist und Eigentum die Stadt aus der Ferne mit Artilleriegranaten bedrängten, die auf keinen bestimmten Punkt gerichtet waren. Mein Zug schlich in die Stadt, als die Dämmerung in die Dunkelheit überging, und bewegte sich kaum in den gequälten Straßen, um den Staub – und die daraus resultierende feindliche Beobachtung – gering zu halten.

Und als die Sonne des frühen Morgens den Nebel auflöste, kamen gähnende Gesichter aus den Tiefen der Erdlöcher zum Vorschein, und die Jungs liefen umher und tauschten sich über die vergangene Nacht aus. Großes Interesse galt dem Lastwagen, der drei zerstochene Reifen, einen durchlöcherten Kühler und zahlreiche Schrapnelllöcher aufwies.

Im Licht des Tages bemerkte ich ein weitläufiges, friedliches Kloster unmittelbar hinter der Stellung – mit seinem Innenhof und seinen Türmen, die wie durch ein Wunder unversehrt blieben. Und während ich dort im Schutz einer Böschung saß, das Kloster betrachtete und dem melodiösen Läuten seiner Glocken lauschte, das sich mit dem grässlichen Wehklagen feindlicher 88er [Granaten] mischte, schritt eine einsame Nonne zielstrebig durch den Hof, einen Eimer Wasser in der Hand. Es war ein Schock, als sie mich in perfektem Englisch ansprach, ihre Ausweispapiere vorzeigte und ich erfuhr, dass sie in Abwesenheit des terrorisierten Farmers und seiner Familie das Vieh hütete.

Und das ist die Summe und der Inhalt meiner Geschichte. Den ganzen Morgen lang, während das Heulen der deutschen Artillerie über uns den Rest von uns in unseren Löchern hielt, bewegte sich diese Nonne ruhig und gelassen um das Skelett der ausgebrannten Scheune herum – und um die Körper der toten, aufgeblähten Kühe; molk die geschwollenen Kühe, fütterte und tränkte die Hühner, sammelte Eier.

Unser streitlustigster und skeptischster Atheist [Penton über sich selbst] war gebührend fasziniert und beeindruckt von der Kraft und Stärke des Glaubens dieser Schwester – und der völligen Furchtlosigkeit, …. Es war nicht der plötzliche, erregte und kurzlebige Mut, der einen Mann dazu treibt, heißes Blei zu riskieren, um einem Kumpel zu helfen, für mich war es weit mehr als das………Es war das Bild eines reifen und vollständigen Glaubens, es war Gelassenheit des Verstandes und der Seele inmitten der Wildheit der Arme und des Geistes des Menschen………..Diese Nonne hatte keine zweijährige Ausbildung und ‚Kampfkonditionierung‘ hinter sich und war nicht unter Gewehrfeuer gekrochen………..aber ihre Haltung und ihr Ausdruck und ihre verbissene Verfolgung der häuslichen Pflichten eines anderen inmitten dieses Infernos waren etwas, an das wir uns alle erinnern werden; so wie wir uns auch an das viertelstündliche Läuten der Klosterglocken erinnern werden, wie in geduldigem, lang anhaltendem Widerstand gegen die hochexplosiven Granaten, die die Stadt zerrissen…………… Und während ich die Nonne zeichnete, warfen einige der Jungs einen Blick über meine Schulter……….. Es stand kein Titel auf dem Papier, aber jeder erinnerte sich sofort…

Nun, es gibt nichts Neues zu sagen. Wir scheinen hier in Frankreich schnell voranzukommen, aber erwartet nicht täglich den Zusammenbruch… Diese Deutschen sind entweder Verrückte oder Wahnsinnige, – und die Tatsache, dass sie in kleine ‚Kessel‘ aufgeteilt werden, hindert ihre Generäle nicht daran, sie in ein langwieriges Gemetzel zu treiben…….

(…)

Macht Euch keine Sorgen, wenn ich keine Zeit zum Schreiben habe. Ihr wisst ja, dass in der Armee ‚keine Nachrichten gute Nachrichten sind‘.

Liebe Grüße an alle,
Jim“

 

 

 

Im Dezember 1944 wurde James R. Penton verwundet und nach Paris evakuiert. Er erholte sich vollständig und kehrte nach Hause zurück.

 

(Titelfoto: Amerikanischer Soldatenfriedhof in Henri Chapelle/Belgien,
Oktober 2018)

 

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