Julius Erasmus: Die Dürener Zeitung – Wer betreibt „Geschichtsverfälschung“? (Veröffentlicht am 15.02.2022)
I. Der Artikel „Das ist Geschichtsverfälschung“ in der Dürener Zeitung vom 28.01.2021
Die Dürener Zeitung veröffentlichte am 28.01.2021 unter dem Titel „Das ist Geschichtsverfälschung“ einen Artikel (kostenpflichtige Onlinefassung), der sich mit Julius Erasmus und einer zu seiner Person in der Gemeinde Hürtgenwald errichteten sog. „Hörstelle“ befasst. Darin kritisiert der „Beauftragte des Kreises Düren für die Betreuung der Kriegsgräberstätten Vossenack und Hürtgen als Orte einer demokratischen Erinnerungs- und Gedenkkultur“, Frank Möller, das überlieferte Narrativ zu Julius Erasmus.
In dem Artikel beschreibt die Autorin der Dürener Zeitung, Sarah Maria Berners, die Geschichte von Julius Erasmus einleitend wie folgt (Artikel a.a.O., linke Spalte):
„Protagonist der Hörstelle (hörbar auf www.liberationroute-nrw.de) ist Julius Erasmus, ein als ‚Totengräber von Vossenack‘ bekannter Mann. Dort, aber auch auf der Internetseite des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und auf einer Infotafel an der Kriegsgräberstätte in Vossenack wird die Geschichte von Julius Erasmus gleich erzählt: Erasmus ist in dieser Geschichte ein Nachkriegsheld, der selbstlos die Toten aus dem verminten Hürtgenwald barg, registrierte und ordentlich bestattete. Mehr als 1500 Tote, so heißt es, soll er alleine geborgen haben.“
Im Anschluss kommt sie auf den wohl eigentlichen Zweck des Artikels zu sprechen (a.a.O., l. Sp.):
„Quellen, die Möller zum Beispiel im Stadt- und Kreisarchiv eingesehen hat, zeichneten ein Bild von Erasmus, das deutlich von dem bekannten abweicht. Es sei das Bild eines eigenbrötlerischen, vermutlich vom Krieg traumatisierten Mannes, der ‚offensichtlich stark auf seinen Ruf und auch seinen Nachruhm bedacht‘ gewesen sei. ‚Über Julius Erasmus weiß man wenig, jedenfalls wenig Gesichertes‘, sagt Möller. Seine Recherchen zeigen aber, dass Erasmus anders bewertet werden sollte als bisher geschehen, auch in unserer Zeitung.“
So wird ausgeführt (a.a.O., Ende l. Sp.):
„‚Sicher hat Erasmus sich um die Kriegsgräberstätte in Vossenack verdient gemacht. Es ist nicht grundsätzlich falsch, an ihn zu erinnern‘, stellt Möller klar. Das solle aber inhaltlich fundiert und ausgewogen erfolgen. Die schriftlichen Quellen reduzierten die von Erasmus selbst verbreiteten Zahlen deutlich. So bezeugte Josef Knuppertz aus Vossenack im Jahre 1960 in einem Schreiben, dass die von Erasmus gemachten Angaben nicht der Wahrheit entsprächen.“
Im Anschluss werden Passagen aus der Erklärung des Herrn Knuppertz wie folgt zitiert:
„‚Minenverseuchtes Gelände mied er gerne‘, heißt es dort etwa. Knuppertz stellt die Arbeit auch der anderen Männer – in der Geschichte sind es die Helfer von Erasmus – in den Vordergrund: ‚Es herrschte in unseren Reihen große Verbitterung darüber, dass er bei der Löhnung durch die Gemeinde immer mit der höchsten Stundenzahl beteiligt war, obwohl er sich zeitweilig bei der Arbeit gar nicht sehen ließ.‘“
In dem sich anschließenden „Interview“ stellt Herr Möller fest (a.a.O., dritte Sp.)
„Bei Texten über historische Personen sollte man alle Quellen prüfen. Und wenn es unterschiedliche Bewertungen gibt, sollte man diese einander gegenüberstellen und nicht unüberprüfte Legenden tradieren“
und liefert die aus seiner Sicht korrekte Bewertung von Julius Erasmus gleich mit (a.a.O.):
„Erasmus war kein Held, er war ein bedauernswerter, geschundener Mann mit einem ausgeprägten Ego, der nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuspruch lechzte – und das auch auf Kosten anderer.“
II. Eine Kritik des Artikels
Inhalt und Methodik dieses Artikels sind in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert und werfen sehr grundsätzliche Fragen journalistischen Handwerks und journalistischer Ethik auf.
1. Der Umgang mit Quellen
Eine seriöse Berichterstattung würde es angesichts der schwerwiegenden Behauptungen, die über einen langjährig verstorbenen Menschen aufgestellt werden, zunächst verlangen, die besagten „Quellen, die Möller zum Beispiel im Stadt- und Kreisarchiv eingesehen hat“ im Detail zu benennen. Allein im Stadt- und Kreisarchiv Düren sind rund 50 einschlägige Akten mit mehreren tausend Seiten Umfang vorhanden. Wurden diese vollständig gesichtet? Es ist kaum anzunehmen. Wenn nicht: Kann es nicht sein, dass sich in den nicht gesichteten Unterlagen Informationen befinden, welche die in dem Artikel aufgestellten Thesen widerlegen? Würde serös betriebener Journalismus es nicht erfordern, diese Fragen zu klären, bevor verkündet wird, „dass Erasmus anders bewertet werden sollte als bisher geschehen“? Oder liegt das Ziel des Artikels vielleicht darin, jenseits aller Fakten eine von vorherein gewünschte „Bewertung“ zu liefern?
2. Die „Knuppertz-Erklärung“ und ihre Hintergründe
Die Kernaussage des Artikels, wonach „Erasmus anders bewertet werden sollte als bisher geschehen“ wird vor allem auf die besagte – hier hinreichend bekannte – schriftliche Erklärung des Herrn Knuppertz vom 08.12.1960 gestützt, die in einer Akte des Stadt- und Kreisarchivs Düren zu finden ist. Obwohl ein „inhaltlich fundiertes und ausgewogenes“ Vorgehen und ein „Prüfen aller Quellen“ angemahnt wird, geschieht genau dies nicht. Die besagte Erklärung wird unreflektiert übernommen und ihr Inhalt als richtig unterstellt, wobei der Kontext, in dem sie seinerzeit abgegeben wurde, unerwähnt bleibt.
Aus der entsprechenden Akte ist ohne weiteres ersichtlich, dass die „Knuppertz-Erklärung“ eine Anlage zu einem längeren Schreiben ist, das Herr Josef Brugger, Nachfolger des Herrn Erasmus als Wärter des Soldatenfriedhofs in Vossenack nach dessen Pensionierung im Februar 1960, im Dezember 1960 an die damals zuständige Verwaltung des Landkreises Monschau verschickt hat. Zwischen Erasmus und Brugger, letzterer war schon vor der Übernahme des Wärterpostens unter Herrn Erasmus auf der Anlage tätig, bestanden offenbar erhebliche persönliche Animositäten, die bis zu körperlichen Auseinandersetzungen gereicht haben sollen. Nach der Pensionierung des Herrn Erasmus bezichtigte sein Nachfolger ihn gegenüber der Kreisverwaltung Monschau mehrerer „Lügen“, wobei ihm vor allem das positive Bild, das Herr Erasmus auch nach seinem Ausscheiden als Friedhofswärter in der Öffentlichkeit nach wie vor genoss, ein nachhaltiger Dorn im Auge gewesen zu sein scheint.
Als eine dieser „Lügen“ hatte Herr Brugger die Zahl der von Erasmus allein vor Bestehen des Soldatenfriedhofs auf dem Gemeindefriedhof von Vossenack bestatteten Gefallenen ausgemacht. Die eigenartige, bis in die heutige Zeit vielfach als zentral angesehene Frage wie viele Gefallene Julius Erasmus alleine geborgen und begraben hat, trieb also schon damals ihre Blüten. Josef Brugger versuchte nun nachweisen, dass die seinerzeit offenbar kursierende Zahl von 783 Gefallenen durch Erasmus allein auf dem Gemeindefriedhof bestatteten toten Soldaten überhöht sei. Hierzu befragte er vor Ort mehrere Männer, die Ergebnisse stellte er in seinem Schreiben an die Kreisverwaltung dar. Der erste, der Gemeindearbeiter Heinrich Leisten, der bei zahlreichen Gefallenenbergungen mit Herrn Erasmus zusammengearbeitet hat, bestätigte die Zahl von 783. Der zweite, der erwähnte Herr Knuppertz, dessen Hintergrund und Bezug zu Julius Erasmus unklar bleiben, reduzierte sie hingegen auf „allerhöchstens“ 200.
Ein seriöser Umgang mit Quellen würde es verlangen, neben dem vorgenannten Kontext der „Knuppertz-Erklärung“ auch die inhaltlich divergierenden Zeugenaussagen zumindest zu erwähnen. Die „Knuppertz-Erklärung“ findet sich in der besagten Akte des Stadt- und Kreisarchivs Düren direkt bei dem Schreiben des Herrn Brugger, dem sie beigefügt worden war. Warum werden dieses Schreiben und der Zusammenhang, in dem die Erklärung des Herrn Knuppertz abgegeben wurde, in dem Artikel ebenso verschwiegen wie die gegenteilige Aussage des Herrn Leisten?
3. Der Inhalt der „Knuppertz-Erklärung“
Vielsagend ist auch die sehr selektive Zitierung von Inhalten der Erklärung des Herrn Knuppertz in dem Artikel. Die Erklärung lautet vollständig wie folgt (Quelle: Stadt- und Kreisarchiv Düren):
„Außer Herrn Erasmus waren beim Bergen der Kriegstoten, die auf dem Ehrenteil des Gemeindefriedhofes bestattet wurden, 6 Mann bis Nov. 47, danach dann noch 4 Arbeiter der Gemeinde Vossenack bis zur Währungsreform 48 beschäftigt.
Es wurden von diesen 6 Mann in der Zeit 47-48 ungefähr 700 Gefallene eingebettet.
Allerhöchstens hat Herr Erasmus davon nur 200 allein geborgen.
Diese Zahl ist für ihn noch schmeichelhaft.
Es herrschte in unseren Reihen große Verbitterung darüber, daß er bei der Löhnung über die Gemeinde immer mit der höchsten Stundenzahl beteiligt war, obwohl er sich zeitweilig bei der Arbeit gar nicht sehen ließ. Minenverseuchtes Gelände mied er gerne.
Ich bezeuge, daß die von Herrn Erasmus gemachte Angabe, daß er die auf dem Ehrenteil des Gemeindefriedhofes Vossenack bestatteten ca. 780 Kriegstoten allein geborgen hätte‚ nicht der Wahrheit entspricht.“
Demnach ist festzuhalten: Die „Knuppertz-Erklärung“ behandelt die Frage, wie viele Gefallene Julius Erasmus in den Jahren 1947 und 1948 und damit vor Gründung des Soldatenfriedhofs in Vossenack alleine auf dem Gemeindefriedhof von Vossenack beigesetzt hat. Sie erlaubt damit von vornherein keine Aussage über dessen Tätigkeit auf dem späteren, im Oktober 1952 eingeweihten Soldatenfriedhof in Vossenack, auf dem Herr Erasmus offiziell bis Februar 1960 tätig war. Genau dieser Eindruck wird in dem Artikel aber erweckt, wenn es heißt, die „Recherchen“ des Herrn Möller zeigten, „dass Erasmus anders bewertet werden sollte als bisher geschehen“. Es wird so getan, als sei durch die besagten, nach Umfang und Inhalt im Einzelnen unbekannten „Quellen, die Möller zum Beispiel im Stadt- und Kreisarchiv eingesehen hat“ belegt, dass Julius Erasmus erheblich weniger Gefallene geborgen habe, als dies landläufig behauptet wird. Diese Schlussfolgerung gibt die einzige als Beleg konkret angeführte Quelle, die besagte „Knuppertz-Erklärung“, allerdings schon wegen ihres beschränkten Themas erkennbar nicht her.
Zudem sind die in dem Artikel zitierten Aussagen „Minenverseuchtes Gelände mied er gerne“ sowie „Es herrschte in unseren Reihen große Verbitterung darüber, dass er bei der Löhnung durch die Gemeinde immer mit der höchsten Stundenzahl beteiligt war, obwohl er sich zeitweilig bei der Arbeit gar nicht sehen ließ“ in der Erklärung zwar enthalten, machen aber nur einen kleinen Teil derselben aus, wobei die übrigen Inhalte den limitierten zeitlichen und sachlichen Bezug der Erklärung ohne weiteres deutlich machen. Weshalb wurden in dem Artikel also gerade diese beiden Passagen aus der Erklärung zitiert und der Rest verschwiegen? Weshalb wurden diese beiden selektiv ausgewählten Passagen in dem Artikel verallgemeinert und gleichsam zum Beweis für die offenbar gewünschte Feststellung aufgeblasen „dass Erasmus anders bewertet werden sollte als bisher geschehen, auch durch unsere Zeitung“?
III. Fazit
Zweifelsohne bedarf die überkommene Erzählung von Julius Erasmus einer kritischen Überprüfung, der einige der derzeit über ihn verbreiteten Thesen vermutlich nicht standhalten werden. Maßstab für eine solche Überprüfung müssen jedoch sachliche Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit sowie eine strikte Orientierung an belegbaren Fakten sein, damit die hergebrachten, vielfach fragwürdigen Behauptungen nicht ebenso fragwürdigen Ersatz einer lediglich anderen Prägung erfahren.
Der Artikel „Das ist Geschichtsverfälschung“ in der Dürener Zeitung vom 28.01.2021 zeigt anschaulich die bei fehlender Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit und Faktenorientierung zu erwartenden Resultate.
Anstelle einer ausgewogenen, sach- und faktenorientierten Darstellung wird in dem Artikel eine in unklarer Motivation getroffene Aussage eines Einzelnen, die schon aufgrund der ihr zugrundeliegenden besonderen Umstände nicht zur Verallgemeinerung taugt, zum Nachweis dafür erhoben, dass Julius Erasmus als historische Person nunmehr „anders bewertet werden sollte als bisher geschehen“. Das Treffen dieser Feststellung scheint von vornherein das eigentliche Motiv des Artikels zu sein, wobei man „inhaltlich fundiert und ausgewogen“ zu agieren und „alle Quellen zu prüfen“ vorgibt, die getroffenen Schlussfolgerungen aber offenbar auf wenige sehr selektiv gewählte, ihrem Kontext entkleidete Quellen und Aussagen stützt und alles ausblendet, was nicht in das neu definierte Narrativ des „kriegsgeschundenen Egomanen“ passt. Im Ergebnis handelt es sich um einen durchsichtigen, methodisch und fachlich fragwürdigen Versuch, die bestehende Erzählung zu Julius Erasmus gemäß dem Weltbild der Autorin und des von ihr befragten „Beauftragten des Kreises Düren für die Betreuung der Kriegsgräberstätten Vossenack und Hürtgen als Orte einer demokratischen Erinnerungs- und Gedenkkultur“ umzudeuten.
Nach alledem stellt sich die Frage: Wer ist es wirklich, der eine „Geschichtsverfälschung“ versucht?
(Foto: Herbst auf dem Soldatenfriedhof in Vossenack, Oktober 2019)
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