Feldpostbriefe: Letzter Brief eines deutschen Soldaten aus Russland, 22. März 1945 (Veröffentlicht am 22.07.2024)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

Letzter Feldpostbrief des Gefreiten Gerhard Schulze vom 22. März 1945 an seine Eltern (Quelle: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Letzte Lebenszeichen – Briefe aus dem Krieg, S. 191 ff.):

„Osten, 22.3.1945

Meine geliebten, guten Eltern!

Und wieder hat mich der liebe Gott vor einem grausigen Schicksal bewahrt! Am 15.3. früh 4:30 Uhr (ich wurde gerade auf Posten abgelöst) begann der Russe ein wahnsinniges Trommelfeuer, dass man aber auch nicht 2 Sekunden Unterbrechung feststellte, von und nach allen Seiten. Erst gegen 15 Uhr flaute es etwas ab. Aber bis zu dieser Zeit war auch viel los! Bereits früh gegen 8 Uhr kam der Russe nach mehreren Fronteinbrüchen über die Höhe in unseren Wald, wo wir im gerade fertig gewordenen Bunker hausten. Wir mussten türmen und dabei auch alle Sachen liegen lassen. Nun hat keiner mehr was. Wir kamen in unheimliches Feuer hinein und lagen volle 20 Minuten flach im Dreck. Ich werde das nie vergessen, wie ein Einschlag nach dem anderen um uns lag. Gott sei Dank hatten wir keinen Volltreffer, nur einen Verwundeten hatten wir. Ich hatte auch Glück, ein Splitter traf auf meinen Kochgeschirrdeckel, sonst hätte ich das Ding ins Kreuz gekriegt.  

Wir wurden vom Russen eingekesselt, ein Erlebnis, das man nie vergessen kann. Wir sind nun 4 Tage und Nächte ununterbrochen unterwegs gewesen, immer gelaufen, hoffend, dass wir irgendwo noch rauskommen. Wir hatten Infanteriekämpfe, mussten aber immer wieder weiter. Wir sind – nachdem wir auch das Gerät verlassen mussten – 120 km getippelt, eine Leistung, die ich mir nie zugetraut hätte. Meine Beine spürte ich nicht mehr, die Füße waren blutunterlaufen. Ich hatte den lieben Gott immer um Hilfe gebeten, und er hat mir auch geholfen. Ich bin mit aus dem Kessel heraus. Wir haben uns in der Nacht durchgeschlagen, aber es sind auch viele Kameraden nicht durchgekommen.

Meine besten Eltern, ich schreibe kurz heute, wir sind jetzt in einem Dorf zur Zusammenstellung, und gehen dann wieder zum Einsatz. Wir müssen uns nun erstmal etwas herrichten, und die Füße sind – nachdem ich die Schuhe und am Fuß angeklebten Strümpfe ausgezogen hatte, fast nicht gebrauchsfähig. Aber diese Anstrengung war nicht ganz umsonst, wir sind – wenn auch bloß 10 Mann von uns 20 – erst mal raus. Hoffentlich wiederholt sich das nicht noch mal. (Mir geht es gut jetzt, und wir werden die paar Tage Ruhe ausnutzen, uns zu erholen.)

Wie geht es nur Euch und unserem lb. [lieben] Hasen? Durch die Versprengung im Kessel von unserer Truppe habe ich mich einer neuen Einheit zuteilen lassen müssen, daher wieder die neue F.-P.-Nr. [Feldpostnummer]. Ich weiß nicht, ob es Zweck hat, mir zu schreiben. Ich denke viel an Euch. Hoffentlich hat nun alles ein Ende. In Liebe und Verbundenheit bin ich mit herzlichsten Grüßen und Küssen Euer Gerhard. Es ist wenig Zeit heute, an Gerlinde will ich gleich, ev. morgen schreiben!

Werdet Ihr heute einen ruhigen Geburtstag verleben? Gebe es Gott!

Euer Gerhard“

 

 

Der Feldpostbrief von Gerhard Schulze an seine Eltern war sein letztes Lebenszeichen, er trägt den Poststempel „Neiße“. Gerhard Schulze kam am 31.01.1923 in Leipzig zur Welt, er gilt bis heute als vermisst.

 

(Titelfoto: Soldatenfriedhof Lohrer Wald bei Bad Kreuznach,
August 2021)

 

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