Feldpostbriefe: Brief des US-Soldaten Sidney Diamond aus dem Süd-Pazifik an seine Verlobte Estelle Spiro im November 1944 (Veröffentlicht am 29.11.2024)
Im August 1938 traf Sidney („Sid“) Diamond, 16 Jahre alt, in der New Yorker Bronx die 14-jährige Estelle Spiro („’Stelle“). Waren beide zunächst Freunde, verliebten sie sich nachfolgend ineinander und wurden ein Paar; ab dem Jahr 1940 sprachen sie über Hochzeit. Dann kam der Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941. Sid brach daraufhin im April 1942 seine College-Ausbildung ab und meldete sich freiwillig zur US Army, gegen den entschiedenen Protest von Estelle sowie seiner Familie und Freunde. Er schlug eine Offizierslaufbahn ein und wurde nach erfolgreichem Abschluss seiner Ausbildung einer Mörserabteilung im 82nd Chemical Bataillon zugewiesen. Im Mai 1943 verlobten sich Sid und Estelle im New Yorker Central Park, bevor Sid an den Kämpfen im Süd-Pazifik teilnahm. Während der Trennungszeit entwickelte sich ein reger, oft liebe- und humorvoller Briefverkehr zwischen den beiden, der in dem Buch „War Letters – Extraordinary Correspondence from American Wars“ von Andrew Carroll auf S. 284 ff. dokumentiert ist.
Nachdem Sid von Januar bis April 1944 als vorgeschobener Beobachter an den Kämpfen um die Salomonen-Inseln teilgenommen hatte, wurde er im Oktober 1944 bei der US-Invasion von Luzon eingesetzt, der Hauptinsel der Philippinen. Am 1. November 1944 schickte er Estelle den folgenden Brief (Quelle: Carroll, War Letters, S. 291 ff. [Übersetzung aus der englischen Sprache]):
„Liebling,
fast siebzehn Monate in Übersee. Es scheint wie ein endloses Intermezzo. Doch irgendwie ist der Tag der Abreise so klar. — Der Weg, den wir vom Lager durch die Seitenstraßen zum Pier gegangen sind. Es gab keine Musikkapellen, keine Schnörkel, kaum Menschen. Ein paar einsame Bürger sahen uns mit einem dumpfen Gesichtsausdruck zu, als hätten sie die Show schon einmal gesehen. Viele andere Truppen, an vielen anderen Tagen, waren uns vorausgegangen — und es sollten noch viele weitere Tage und Truppen folgen. Eine Frau weinte. Ein junges Mädchen winkte. Die Männer waren zu erregt und beeindruckt von dem Ereignis, um ihr nachzupfeifen. Dann der Morgen, an dem das Schiff im Hafen herumfuhr und die Instrumente überprüfte. An diesem Morgen haben wir viel nachgedacht.
Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass das alles nicht neu war — dass unsere Vorfahren irgendwo dasselbe Spannungsgefühl in der Magengegend erlebt hatten. Vielleicht war das Gefühl von unseren tierischen Vorfahren geerbt. Waren wir nicht im Begriff, uns auf das Geburtsrecht der Tiere einzulassen? — Bald würden wir leben, essen, hassen und kämpfen wie die Tiere von einst. Der Mensch hatte sich nicht sehr verändert. Sicher, wir hatten Panzer, Karabiner, Mörser, Flugzeuge — sie waren nur Hilfsmittel für den Aktivismus des Menschen.
Einige von uns fühlten sich betrogen — wir hatten gezockt, hielten aber unsere Verluste für zu hoch. Der Mann mit dem neugeborenen Baby, der Mann, der gerade geheiratet hatte, die jüngeren Jungs, die nur in Jugendträumen leben wollten — nein, ‚Stelle — es gab keine Musikkapellen!
Dann, in der Rückbetrachtung, kam der zweite Aufbruch — Ein Soldat brich immer auf, er kommt nie an — Als wir Neukaledonien verließen — Wir waren durch die Straßen der Hauptstadt gerast — Mehr Abflüge, mehr Gedanken, mehr Fragen über die ‚Ankunft‘ — Jede Insel ist nur ein Ort, von dem man abfährt, um zu einer anderen Insel zu gehen — Man kommt nie an, wohin man geht. Die Moralapostel und Filmhelden sagen, dass wir nicht aufhören werden, bis wir Tokio erreichen — Wir wissen, dass unsere Abreisen, unsere Abschiede, niemals enden werden — Manchmal fragt man sich, wenn man die weißen Kreuze sieht, die in wohlgeformten Reihen aufgereiht sind — Manchmal stellt man sich auf dem Friedhof die Frage — Sind das die Männer, die endlich ‚angekommen‘ sind? Der Kaplan nennt sie die ‚Aufgebrochenen‘ — aber ihre Reise ist zu Ende — ‚Letzter Halt, alles aussteigen!‘ Man könnte diesen Brief als ‚Zufällige Melancholien‘ betiteln und höflich in den Papierkorb werfen.
Der Geist von Johnny Martin schwebt jetzt vor uns — ein netter Junge — um die zwanzig — Die Armee hatte ihn nicht sehr altern lassen — Er lachte viel. Johnny hat sich nie beklagt. Ich erinnere mich so lebhaft, so grausam klar — an unsere letzten Tage, bevor wir die Staaten verließen. Wir hatten eine Bierparty. Johnny spielte Gitarre und sang Western- und Hill-Billy-Musik — manchmal, wenn ich nicht aufpasse, ertappe ich mich dabei, wie ich den ‚Truck Drivers Blues‘, sein Lieblingslied, summe — Sie erlaubten Männern nicht, Übergepäck mitzunehmen, also trug ich seine Gitarre mit meiner Ausrüstung, als wir abreisten. — Martin war nicht brillant. Was ihm an Bildung fehlte, machte er durch seine Fröhlichkeit und sein ewiges Lächeln wieder wett — er war einfach ein Typ wie jeder andere, der am ‚Ende der Schlange‘ ausstieg.
Sorge Dich sich nicht um diesen morbiden Blödsinn. Manchmal überwältigt mich die Einsamkeit — die Geräusche der Insekten, der Vögel, der kleinen Lebewesen scheinen sich in meinem Zelt zu drängen und mich zu erdrücken. Es ist schrecklich, nur mit Erinnerungen zu leben. — Der Soldat denkt nicht an die Zukunft, seine ‚Gegenwart‘ existiert einfach und die Vergangenheit ist alles, woran er denken kann.
‚Stelle, ich würde ich diese Last niemandem außer Dir schreiben oder sagen, weil es so kindisch klingt und Du die Einzige bist, bei der ich mich beklagen kann. Erinnert mich an eine kleine Schminkmode, die wir hier haben. Einmal habe ich mich über irgendeinen Blödsinn beschwert und jetzt werde ich jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, gegrüßt mit einem
‘Moan and groan
With Sidney Diamon’
(…)
Wie auch immer, ich stöhne und ächze an Deinen schönen, weichen Schultern — ich will mit Dir zusammen sein — ich liebe Dich
Dein,
Sid“
Am 29.01.1945 erlitt 1st Lieutenant Sidney Diamond, 82nd Chemical Bataillon, in den Kämpfen auf Luzon einen Bauchschuss, an dem er starb. Er wurde 22 Jahre alt. Estelle hatte ihn zuletzt am 16.05.1943 gesehen, zwei Tage nach der Verlobung der beiden.
(Titelfoto: Titelfoto: Grabkreuze auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof
in Henri Chapelle/Belgien, Oktober 2018)
Meine Arbeit können Sie hier unterstützen, vielen Dank!