Feldpostbriefe: Brief des deutschen Soldaten Werner Pott aus Russland, Weihnachten 1941 (Veröffentlicht am 22.12.2024)
(Quelle: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939 – 1945, S. 223 ff.):
„Bei Kalinin vor Moskau, 19. Dezember 1941
Ich sitze in einem Haus, das in einer halben Stunde in Flammen aufgeht. Seit Wochen sind wir im Einsatz ohne Ruh und Rast, Tag für Tag ein anderes Quartier, Märsche im Schneesturm bei 25 Grad Kälte, verfrorene Nasen und Füße, dass man schreien möchte, wenn man die Stiefel ausziehen muss, Dreck, Ungeziefer und anderes Unerquickliches: das sind die Opfer, die wir bei der Begradigung der Front bringen müssen. Sie trieb bei uns einen langen, dünnen Keil in die Linien des Gegners hinein. Neben allen persönlichen Strapazen dauert mich die Zivilbevölkerung, der wir bei unserem Rückzug die Häuser anstecken und die dem Hungertode preisgegeben wird. Die ganze Grausamkeit des Krieges wird offenbar! Weihnachten! Wir sind auf dem Marsch, der Schneesturm braust über die weiten Felder, selten bietet ein Wald etwas Schutz. Die Füße spürt man kaum noch. Die einbrechende Dunkelheit wird erhellt von lodernden Flammen brennender Dörfer.
Gierig schlagen die roten Zungen am Firmament empor, als wollten sie es verschlingen — Weltbrand! Gebückte Greise, Mütter mit kleinen Kindern hasten vorüber, ein kleines Bündel auf dem Rücken birgt die letzten Habseligkeiten. Hinter uns sprengen Pioniere Brücken und Häuser. Daheim steht irgendwo ein Weihnachtsbaum, glänzt vertrauter Schmuck, singen liebe und geliebte Menschen Weihnachtslieder. Man sollte lieber nicht daran denken.
Wir sind, soweit entbehrlich, Infanteristen geworden und werden als solche eingesetzt. Der Kampf Mann gegen Mann ist uns noch nicht so recht gewohnt, aber im entscheidenden Moment wird jeder bestehen. Leider ist zum Heiligen Abend und bis jetzt noch keine Post angekommen. Ich hatte mich so auf Briefe von zu Haus und vielleicht auch einen von Dir gefreut, doch nun steht mir das wohl noch bevor, die Vorfreude bleibt.
Die einzigen Werte, die unvergänglich sind, das wird mir hier immer klarer, sind die, die Faust in der Osternacht den Giftbecher aus der Hand nahmen — Erinnerung! Wenn man an die Vergangenheit denkt, versinkt alles um einen u n d die letzten Strahlen der Abendsonne vergolden schöne Stunden entschwundener Zeiten. Heute denkt man an dies und morgen an jenes. Lass mich einmal plaudern. Wann war es noch? Ich kam von einer Ferienfahrt und kletterte die lange Treppe zu Eurer Wohnung herauf. Ich erinnere Dein blaues Zimmer, so nett und gemütlich, mit den Wachsfiguren, den Büchern über Malerei — besonders Grünewald —, denke an einen Spaziergang auf den Kirchhof oder an den Abend im Café, denke lächelnd daran, wie ich mich anschließend in der Bahn gewöhnlich über mein ungeschicktes Betragen ärgerte — — vorbei — vorbei —. Ob man später wohl überhaupt noch die Energie und Unbefangenheit aufbringt, das hier Erlebte zu vergessen und wieder ganz jung zu werden?
Nun geht es wieder weiter zu neuem Kampf, das Dorf brennt schon an allen Ecken und Enden!“
Oberleutnant Werner Pott, geboren am 28.08.1922 in Ascheberg/Westfalen, gefallen als Angehöriger der 2. Batterie des Artillerieregiments 120 am 25.03.1943 im Raum von Orel/Russland durch eine unfallbedingte Minenexplosion.
(Titelfoto: Winterszenerie im bayrischen Voralpenland,
Februar 2013)
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