Feldpostbriefe: Briefe des deutschen Soldaten August Gerull aus Russland an seine Familie im März und April 1945 (Veröffentlicht am 14.08.2023)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

Briefe des deutschen Soldaten August Gerull aus Russland an seine Familie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs
(Quelle: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Letzte Lebenszeichen II – Briefe aus dem Krieg, S. 61 ff.):

 

Brief vom 26.03.1945:

„Liebe Mutti, Peterle und Hänschen! Soeben habe ich zwei Briefe von Dir erhalten, den einen vom 17.1. und den anderen vom 25.1. Ich freue mich, nach so langer Zeit doch paar Zeilen erhalten zu haben, wenn sie auch sehr alt sind. So ist mir doch leichter und ich bin ruhiger, wenn ich weiß, dass noch alles gesund und in Ordnung zu Hause ist. Eine Freude geht mir durch und die Tränen stehen in den Augen, wenn ich Deinen Brief lese, wie es Euch geht. Gewiss habt Ihr es schwer. Aber Du weißt nicht, wie es mir zumute ist, wenn ich weiß, meine Frau und Kinder sind vorläufig in Sicherheit und der Tyrannei von Russen entgangen! Deswegen vertraue ich auf Gott und danke ihm, dass er uns bis jetzt geholfen hat. Erstens aus dem Ruhrgebiet, als wir [dort] wohnten, dann von Ostpreußen. Oh Gott, das Leben hätte keinen Wert mehr gehabt, wenn ich wüsste, dass Du, klein Peterle und Hänschen in den Händen der Russen gewesen wären. Darum vertraue ich fest und danke, dass es einen Herrgott gibt und er mir bis jetzt und meiner Familie geholfen hat. Und sollte ich heil oder als Krüppel nach dem Krieg nach Hause kommen, so will ich auch nur einer Sache dienen und das ist unser Herrgott. Ich habe in der kurzen Zeit sehr viel gesehen und ich denke jetzt anders als früher. Ein Mensch ist gar nichts. Solange er lebt, wird er gehetzt und getrieben, keine Stunde, keinen Tag und keine Nacht Ruhe. Und doch hängt jeder an seinem bisschen Leben, wenn das Feuer von allen Kalibern auf ihn trommelt. Ja, so reißt der Krieg viele Wunden in glückliche Reihen. Was ist der Mensch? Gar nichts!!! Diejenigen, die den Krieg angezettelt haben, sollte man in Stücke reißen! Aber die sitzen herrlich und in Freuden im Trockenen in Schmaus und Braus!

Nun, wie geht es Dir noch, heute ist zweiter Osterfeiertag. Ja, wie sieht es im Reich aus? Ein Elend und Grausen! Wie sollen die vielen Menschen satt werden? Was macht noch klein Peterle, ist wohl noch gesund, nur dass dem kleinen Engel seine Bäckchen dünner sein werden. Oh Gott, wie ist es schlecht, wenn ein Kind nicht mal satt zu essen hat. Und das arme Hänschen ist jetzt gerade im besten Wachsen und erhält nichts in den Knochen. Gott gebe, dass dieses grausame Gemetzel bald ein Ende nehmen möchte.

Wie sieht es jetzt im Garten aus, wohl alles schön grün? Oder haben die Bomben alles dem Erdboden glatt gemacht? Ja, was Hände Arbeit mühsam erbaut mit Schweiß, wird in einer Sekunde vernichtet und dem Erdboden gleich gemacht. Nun, Liebling, ich werde schließen. Verzage nicht und sei tausendmal Du sowie Hänschen und Peterle geküsst von Eurem Vati.

Wünsche Hans-Joachim viel Glück zu seinem 10. Geburtstag am 31. April. Vati.“

 

Brief vom 02.04.1945:

„Liebe Mutti, Peterle und Hänschen!

Da ich ein paar Tage nicht geschrieben habe, so will ich Dir paar Zeilen zukommen lassen. Ich habe noch keine Post von Dir, außer dem Brief von Januar. Weiß ja auch gar nicht, ob Ihr noch lebt. Ja, wir leben in einer schlechten Zeit, wer weiß, ob wir uns nochmal hier auf dieser Welt sehen werden! Es ist traurig und man kann bald verzweifeln. Keine Post von zu Hause und der Krieg wird immer härter. Es sollen Menschen gegen Material entscheiden. Man sieht zu, wie die besten Kameraden vor den Augen in Stück gerissen werden. Und jede Sekunde kann dasselbe Los einen selbst treffen. Ich glaube bestimmt, die Welt kann nicht mehr lange bestehen bleiben. Denn was für eine Masse Menschen hingeschlachtet wird, ist überhaupt nicht mehr zu übersehen. Gott soll mir gnädig sein und, wenn es bestimmt ist, so sterben lassen, dass ich bald tot bin. Mein Liebling, sollt ich nicht mehr zurückkommen, so sehe doch, dass die beiden Kleinen im späteren Leben weiterkommen. Ich habe weiter keinen Wunsch oder Dir was vorzuschreiben, sondern nur […], dass die beiden groß werden möchten und von einem Krieg verschont bleiben.

Ich weiß, Du bist alt genug und auch im ganzen Leben tüchtig gewesen und wirst wissen, was Du zu tun und zu lassen hast. Schade, dass das Leben so kurz ist und viele tausende und übertausende nicht mehr ihre Lieben daheim sehen können! So ruft einer noch dem anderen Kameraden im Loch zu: „Lebst du noch?“ Und es ist wirklich Gottes Wunder, wenn man sieht, dass doch, wenn auch nicht alle, so der größte Teil da ist. Dann birgt man zuerst die Kameraden, die schwer verwundet sind, dass die nach dem Verbandsplatz schnell kommen. Dann sieht man nur noch ernste Gesichter und man kommt sich vor wie ein paar Jahre älter.

Ich will nicht klagen, habe keinen Grund dazu, bin froh, dass es mich bis jetzt nicht erwischt hat. Mein Haufen ist aufgerieben und ich bin mit 8 Mann aus dem Kessel zurückgekommen. Die anderen sind vermisst oder versprengt, werden wohl bei anderen Einheiten sein. Bin jetzt bei einem neuen Haufen und werde wohl auch da bleiben. Habe gestern an Dich einen Brief geschrieben. Ja, Liebling, Du schreibst, Du wie ich werden anders aussehen, wenn wir uns sehen. Grau werden wir beide sein! Alt werden wir sowieso und es ist gleich, ob wir schneeweiß sind oder nicht. Die Hauptsache ist, dass wir uns im Leben wiedersehen und ich wieder arbeiten und schaffen kann für Euch Lieben daheim. Das ist doch auch nur der ganze Grundsatz für mich und die Aufgaben, die Gott mir gestellt hat. Ich habe ja, wie Du auch weißt, in meinem ganzen Leben keine Ansprüche für mich gestellt, nur die, welche notwendig waren. Und ich sehne mich nach dem Tag, wo ich wieder den Berg raufkomme und mich liebe freudige Gesichter im Flur empfangen. Ja, wenn man so weit von der Heimat fort ist, so steigen einem die Heimatgedanken auf und man liegt wie ich jetzt ein paar Tage auf dem Stroh, auf dem Fußboden, wo schon hunderte Soldaten gelegen haben. Also, das Stroh schon sehr kurz und zertreten und da denkt man so nach, wie es einst war und jetzt ist. Kameraden, die sitzen auf dem Boden und laufen die Runde. Aber es ist nichts Neues, ein jeder hat Angst vor [der] Zukunft. Ja, es kommt vor, dass man sich eine Woche gar nicht waschen kann, sind die Kleider am Leib. Habe ich, seit ich im Einsatz bin, noch nicht runtergehabt. Jetzt kommen die Regentage und der Schlamm ist fast bis zu den Knien. Ja, ein jeder hofft auch, dass dieses Jahr der grauenhafte Krieg ein Ende nehmen wird.

Heute hat Iwan wieder anständig getrommelt. […] Wie Du schreibst, Liebling, habt Ihr viel Alarm. Ich kann mir das denken, der Raum für das deutsche Volk wird immer kleiner und der Feind kommt immer näher. Habe gehört, dass schwere Kämpfe bei Guben und Großau sind. Und das ist südöstlich von Berlin. Ja, der arme Landser hat sein Nötiges getan und auch sich eingesetzt. Und die meiste Kraft ist doch verloren gegangen. Ja, was Anna und Minna geschehen ist, weiß ich noch nicht. Wenn die geraten haben zu flüchten, werden sie ja in Sicherheit sein. Aber die meisten haben es nicht geraten. Ja, das viele Elend, was dieser Krieg der Menschheit gebracht hat, ist nicht zu übersehen. Ich bin mit lauter Ostpreußen zusammen, die warten jeden Tag auf Post und wissen nicht, wo ihre Angehörigen stecken. Ich will gar nicht daran denken.

Mein Liebling, werde ich schließen in der Hoffnung, dass Dich mein Brief gesund antrifft, grüßt und küsst tausendmal Dich, klein Peterle und Hänschen Euer Vati.

Ich bin noch, Gott sei Dank, gesund. Sofern ich Zeit habe, schreibe ich Dir wieder paar Zeilen.

Meine Feldpost-Nr. ist jetzt 64635 B.“

 

Letzter Brief, 15.04.1945:

„Liebe Mutti, Peterle und Hänschen!

Habe gestern neuen Brief vom 22.3. erhalten und habe mich sehr gefreut, dass Ihr noch am Leben seid. Aber der Brief ist sehr alt und seit dieser Zeit hat sich sehr vieles geändert. Du schriebst, dass der Amerikaner in Mainz ist, und jetzt ist er in Eisenach und noch viel weiter. Wie ich gehört habe, soll er schon in Wittenberg sein. Das ist also dicht vor Berlin. Hoffentlich seid Ihr nicht geflüchtet, denn wenn Ihr jetzt noch zu Hause seid, was ich annehme, so habt Ihr wenigstens ein Dach über dem Kopf, wenn das Haus nicht durch Fremdeinwirkung zerstört ist. Denn wo sollen die vielen Menschen auch jetzt hin? Ja, ich habe gehört, dass Kämpfe in Eisenach stattgefunden haben. Ich habe an Euch gedacht und bin noch bis jetzt im Unklaren, wo Ihr steckt und was mit Euch geschehen ist. Es ist ein scheußliches Leben, wenn man nicht weiß, wo die Angehörigen stecken oder ob sie noch am Leben sind. Ich schreibe den Brief auch so auf Geratewohl, weiß nicht, ob er überhaupt Euch antrifft. Habe mich sehr gefreut, dass klein Peterle schon groß ist und die Stachelbeeren schon selbst aus dem Einweckglas rausholt. Ja, der kleine Kerl und auch Hänschen werden jetzt Hunger leiden müssen. Ja, es ist schlimm und wird noch schlimmer werden. Wir leben in einer Zeit, die ungewiss ist. Nun, wie Du siehst, bin ich noch am Leben. Von jetzt in einer Berggegend, wo die Berge etwas höher sind als die in Eisenach. Der Iwan ist nicht weit von uns entfernt. Vorläufig ist es ruhig, bis auf kleine Störungsfeuer. Hoffen wir, dass der Krieg bald ein Ende nehmen möchte und wir uns alle am Leben wiedersehen. Habe [einen] Brief an den Kameraden von Gladbeck geschrieben, mit dem ich in Riga zusammen war. Der Brief ist zurückgekommen mit der Bemerkung: Gefallen für Großdeutschland. Also ist auch ein guter Kamerad von mir gefallen.

Nun, liebe Mutti, Peterle und Hänschen, seid alle tausendmal gegrüßt und tausendmal geküsst von Eurem Vati.

Hänschen hat Geburtstag am 31. April, wünsche ihm viel Glück und Segen! Vati“

 

 

August Gerull wurde am 29. August 1900 geboren, er gilt bis heute als vermisst.

 

(Titelfoto: Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn/Niederlande, Mai 2023)

 

Meine Arbeit können Sie hier unterstützen, vielen Dank!

Archiv