Feldpostbriefe: Die Briefe des Adelbert Rühle, 1939 bis 1942 – Teil 2 von 4 (Veröffentlicht am 25.11.2023)
Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit
Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.
Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.
Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.
Die Auswirkungen politischer Indoktrinierung auf Kinder und Jugendliche
Zu den erschütterndsten Belegen dessen, was politische Propaganda vermag, gehören Feldpostbriefe junger deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, wie sie auf diesem Blog bereits veröffentlicht wurden (vgl. z. B. den Brief von Franz Krügner). Von Kindesbeinen an der „Erziehung“ im Sinne der herrschenden Ideologie ausgesetzt, hatten sie diese so tief verinnerlicht, dass sie es oft kaum abwarten konnten, Soldat werden und ihren Beitrag zur Umsetzung der ihnen als alternativlos vermittelten Ziele leisten zu dürfen.
Die Feldpostbriefe des Adelbert Rühle
Zu diesen Soldaten gehörte Adelbert Rühle, geboren am 23.09.1923 in Posen. Noch nicht einmal 16 Jahre alt, meldete er sich im Herbst 1939 freiwillig zum Dienst an der Waffe. Er fiel am 07.08.1942 als Leutnant der 6./InfRegt 120 (mot.) bei Kalatsch/Russland und wurde auf dem Soldatenfriedhof Krassnye Skodowad bei Kalatsch beerdigt. Beginnend als Rekrut während seiner Grundausbildung im Oktober 1939 bis zu seinem Tod an der Ostfront im August 1942 schrieb er zahlreiche Feldpostbriefe an seine Familie, in denen er sein Seelenleben und seine soldatische Motivation in aus heutiger Sicht mitunter nur schwer zu ertragender Offenheit beschrieb.
Seine Briefe wurden noch zu Kriegszeiten in dem Büchlein „Die Feldpostbriefe des Adelbert-Ottheinreich Rühle 1939 – 1942“ veröffentlicht, um gemäß der damaligen Propaganda „die seelische Entwicklung eines deutschen Jungen zum Soldaten, zum Offizier“ aufzuzeigen (so das Vorwort a.a.O., S. 5). Im Jahr 1979 erfolgte eine Neuveröffentlichung, nun verbunden mit der Mahnung zur Besinnung und zum Frieden (Vorwort a.a.O., S. 6).
Die Briefe von Adelbert Rühle sind eine zeitlose Warnung zur Wachsamkeit gegenüber totalitären politischen Systemen und ihren charakteristischen Mechanismen. Sie zeigen exemplarisch die Folgen eines Regimes, das sich bereits der Kinder und Jugendlichen bemächtigte und sie durch propagandistische Indoktrination zu willfährigen Instrumenten der herrschenden Ideologie erzog, die ebenso gutgläubig wie bedingungslos in Wort und Tat für die ihnen vermittelten Parolen eintraten. Die dramatischen Folgen sind bekannt.
Einige dieser Briefe sollen hier – über mehrere Teile – wiedergegeben werden. Weiter veröffentlicht wurden: Teil 1, Teil 3 und Teil 4.
Undatierter Brief von Adelbert Rühle an seinen Vater (Quelle: Brunhild Rühle, „Die Feldpostbriefe des Adelbert-Ottheinreich Rühle 1939 bis 1942“ (1979) [nachfolgend kurz „Feldpostbriefe Rühle“], S. 24 f.):
„Lieber Vati,
Du hast ja im vorigen Krieg Schweres durchgemacht und warst deshalb auf alles gefasst, als Du hörtest, dass ich vorne war. Ich hab’ nur einen leichten Schimmer von dem bekommen, was Ihr erlebt und geleistet habt, und deshalb habe ich verdammte Ehrfurcht davor, dass Du es gelitten hast, dass ich mich so jung schon freiwillig meldete, wo Du Deine beiden Brüder durch den Krieg verloren hast. Aber Du verstehst mich, Du hast Dich ja auch freiwillig im Weltkrieg gemeldet, wie schon unsere Groß- bzw. Urgroßväter 1813.
Und Du hast recht, dass Du mir schreibst, wenn der Auftrag auch noch so klein ist, so ist man doch unentbehrlich, wenn man ihn ganz versieht, ohne sich hervorzutun. Soldat sein heißt nicht Ruhmestaten vollbringen, das gilt für uns Infanteristen ganz besonders. Und wenn man an seiner noch so kleinen Stelle so viel leistet, wie man kann, dann steht man für ganz Deutschland, für das Erbe unserer Väter und für die Zukunft von Deutschlands Kindern, so unbedeutend die Tat auch zu sein scheint.
Wenn Ihr auch viel Schweres habt durchmachen müssen, so setzen wir jetzt aber durch alle Kraft ein, als dieselben Soldaten, wie Ihr, für dasselbe Ziel. Dein Addi.“
Brief von Adelbert Rühle vom 05.03.1941 an seine Mutter (Quelle: „Feldpostbriefe Rühle“, S. 31 ff.):
„Liebe Mutter,
habt Ihr am Sonntag früh im Rundfunk die Nachrichten vom Einmarsch der deutschen Truppen in Bulgarien gehört? Dann wird es wohl in diesem Frühling dort unten losgehen, von dort aus ist es ja nicht mehr weit nach Griechenland.
Das Wetter ist hier schon warm. Die Sonne hat eine Kraft wie bei uns im Sommer. Wir sind nun wieder durch herrliche Landschaft bei Sonnenschein gefahren. Post kommt nun natürlich so bald nicht. Aber ich hoffe, dass es nun nicht mehr lange dauert und dass Ihr meine Briefe auch bald erhaltet.
Wir sehen schöne, herrliche Gebirge und Flüsse, und doch empfinden wir immer wieder, dass wir, uns hier nicht immer wohl fühlen könnten. Es gibt auf der Welt doch kein zweites Land mit soviel Kultur, mit soviel Sauberkeit, Arbeitstrieb und Gemütswärme. Uns alle bewegt doch irgendwie der Wille, unserem Leben irgendeinen Sinn zu geben, irgendwas zu erreichen, wenn nötig zu erkämpfen.
Es kann für uns nichts Schöneres geben, als für dieses Deutschland uns einzusetzen, Entbehrungen auf uns zu nehmen; denn wir wissen ja, dass es nicht vergebens ist und Deutschland ewig leben wird. Unser Leben und das Leben der Völker kann nichts Zufälliges sein, es ist gottgewollt, das ist mein Glaube an Gott. Unser Schicksal sowie das der Völker im Großen wird nicht entschieden durch Zufälle, durch Material und Menge, sondern durch den Einsatz und den Willen zum Leben, das Lebensrecht, das ist für mich seine Gerechtigkeit.
Deshalb glaube ich so fest an Deutschlands Fortleben, an seine Ewigkeit. Mit dem Verstand darf man da nicht vorgehen, man muss daran glauben, sonst würde die Welt uns ja zu leer und nüchtern sein, in der wir nur endlich leben.
Gestern war der Oberst da und sagte, ich würde wohl bald versetzt werden. Das fehlte ja bloß noch, dann würde ich mich ganz einsam fühlen, ohne die guten Kameraden, bei denen man sich so gut eingelebt hat, 3000 km von Zuhause entfernt … die Kompanie ist nun einmal die zweite Heimat des Soldaten. Aber ich würde mich auch da bald wieder einleben, wenn es sein müsste. Im Einsatz würde ich ja sowieso »Schütze eins« sein. Aber mir bleibt ja nicht die Wahl, ich muss abwarten.
Und dass ihr alle in der Heimat auf uns vertraut, das lässt die kleinen Unbequemlichkeit gering erscheinen und macht uns immer wieder Mut. Und wenn wir bis Weihnachten kein Bett zu sehen kriegen und Konserven fressen, »einst kommt der Tag!« Ich träume jetzt schon immer davon und male mir aus, wie ich dann wirken kann.
Aber ich wollte eigentlich nur ganz kurz einen Gruß an Euch schicken.
Die Kleinen grüß bitte vielmals von ihrem Addi-Bruder. Sie sollen ihn nicht vergessen, wenn er erst einmal als bemooster Krieger nach Hause kommt. Dein Addi.“
Brief von Adelbert Rühle vom 18.03.1941 an seine Mutter (Quelle: „Feldpostbriefe Rühle“, S. 34 f.):
„Liebe Mutter,
am Heldengedenktag, der im Rahmen des Regiments mit einem Feldgottesdienst und einem Vorbeimarsch sehr schön gefeiert wurde, wurde ich vom Oberst zum Unteroffizier befördert und zur sechsten Kompanie, Schützenkompanie, versetzt. Er sagte, dass es wohl schwer wäre, so jung Vorgesetzter zu sein, aber wenn man richtig mit Menschen umgehen könne und vor allem selbst immer Vorbild wäre, dann könnten auch bedeutend ältere Männer einen als Vorgesetzten anerkennen und sogar an einem hängen. Ich würde wahrscheinlich bald zur Waffenschule kommen und solle mich nun in der Schützenkompanie darauf vorbereiten. Hoffentlich komme sich nicht während des Einsatzes fort, dann wäre ich untröstlich! In Theorie rummurksen, während meine Kameraden die Entscheidung um Deutschlands Zukunft erkämpfen und hinterher als ihr Vorgesetzter zurückzukommen, das möchte ich auf keinen Fall. Um im Einsatz eine Gruppe führen zu können, muss ich mich natürlich sehr auf die Hosen setzen, aber wenn wir noch 14 Tage Zeit haben, dann schaffe ich es schon, vielleicht bleiben wir überhaupt noch Monate hier.
Ich wäre natürlich gerne in unserer Kompanie geblieben. Ich hätte mich, glaub ich, auch hier »durchsetzen« können. Allen Kameraden und Vorgesetzten tut es leid, ich steh mich doch mit allen prima, ich hab überhaupt keinen Feind in der Kompanie.
Nun möchte ich noch meinen alten, treugedienten Gefreiten-Winkel nach Hause schicken, den ich »wegen Tapferkeit vorm Feind« bekommen habe und ein dreiviertel Jahr im Grunde genommen, stolz getragen habe. Eine Erinnerung an die schöne, sorglose Zeit, – mit vielen guten Kameraden als »alter« Landser seinen Dienst tun, das war doch eine schöne Zeit. Aufregen tat ich mich über nichts mehr, ich kannte ja alle Touren, und wenn Dienstschluss war, dann war eben Feierabend, dann dachte ich … »Götz« … Wer weiß, ob ich nochmal in meinem Leben so sorglos sein kann. Aber wenn man keine Sorgen hat, macht man sich ja immer welche.
Viele Grüße an Euch alle. Dein Addi.“
Brief von Adelbert Rühle vom 07.08.1941 an seine Familie (Quelle: „Feldpostbriefe Rühle“, S. 43 ff.):
„Ihr Lieben,
vorgestern Nacht haben wir zwei Dörfer durchgekämmt und 384 Gefangene gemacht, gestern machten wir einen Spähtrupp (mot.), hatten etwas unter Fliegerangriffen zu leiden und fuhren dann die Nacht von gestern zu heute wieder durch.
Heute haben wir nun wieder wunderbare Ruhe gehabt. Es kam wieder Post, zwei Briefe von Mutti und Zigaretten und heute gab’s sogar Schokolade. Also leben wir ganz idyllisch.
Vielleicht geht’s heute Abend noch weiter, da muss man sich jede Minute so schön wie möglich gestalten können, und das kann ich ja ganz gut. Es hängt ja immer von einem selbst ab, ob man sich glücklich fühlt und sich Freude bereiten kann, auch mit den geringsten Mitteln, nur mit »blauem Himmel und grüner Frühlingserde«.
Warum sollten wir auch nicht glücklich sein! In so jungem Alter für Volk und Vaterland, das höchste Gut des Menschen, mit seinem Leben einstehen zu können. Seine große Vergangenheit, seinen hohen, inneren Werte, seine Frauen und Kinder zu schützen und damit seiner Zukunft, die mit so viel großen Aufgaben vor uns liegt, Bahn brechen zu können, ist doch ein großes Glück. Alle kleineren und größeren Entbehrungen sind ja so klein dagegen, diese kleinen Annehmlichkeiten können allein nicht glücklich machen. Sicher haben wir, Reini und ich, wie viele andere Gleichaltrige und wie auch Ihr im vorigen Krieg »nichts von der Jugend gehabt«, wie man so sagt, unsere Jugend ist ja auch wirklich hart, weil wir so früh und so jäh, so restlos aus dem Elternhaus gerissen wurden und viele Freuden nicht kennenlernen konnten. Aber dafür liegt vor uns eine wunderbare, große und schöne Zukunft mit soviel großen Aufgaben, und das ist doch ein viel größeres Glück. Und gerade diese Entbehrungen, die wir oft erleiden müssen, erziehen uns mit. Wenn auch so vieles in den zwei Jahren sinnlos erschien und viel kostbare Zeit verstrich, ohne dass ich etwas lernen konnte oder vorwärts kam, so trug doch auch diese Zeit zu meiner Erziehung bei. Gerade diese Zeit hat mich bescheiden gemacht. Das ist heute in der Volksgemeinschaft so wichtig, dass es meinem ganzen Leben zugute kommen wird.
Und wenn ich im ganzen Krieg auch äußerlich nicht viel vorwärts gekommen bin, so hab ich doch innerlich gewonnen. Und ich weiß doch selber, dass ich nie feige und auch im schwersten Feuer immer Herr meiner selbst war und meine Pflicht tat. Das ist die Frontbewährung vor sich selbst, und die ist doch viel wichtiger als alle äußeren Abzeichen. Alle diese Kleinigkeiten können mich nicht mehr klein machen, so wie auch dieser verfluchte Regen, dessentwegen ich jetzt aufhören muss. Altior adversis! [Erhaben über Widrigkeiten!]
Herzliche Grüße an Euch alle. Euer Addi.“
Fortsetzung folgt. Weitere veröffentlichte Teile der Serie: Teil 1, Teil 3 und Teil 4.
(Titelfoto: Adelbert Rühle und sein Grab,
aus: „Die Feldpostbriefe des Adelbert-Ottheinreich Rühle 1939 – 1942”, S. 60, 90)
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