Feldpostbriefe: Letzte Briefe aus Stalingrad – Brief eines namenlosen deutschen Soldaten aus dem Jahr 1942 über seine Trauer, einen brennenden russischen Panzersoldaten getötet zu haben (Veröffentlicht am 22.11.2024)

Ein namenloser deutscher Soldat äußert in einem Brief aus dem Jahr 1942 seine Trauer darüber, nach einem Panzergefecht einen brennenden russischen Soldaten getötet zu haben (Quelle: Letzte Briefe aus Stalingrad, Brief Nr. 35, S. 58 ff.):

„… Ich habe so viel in den letzten Nächten geweint, dass es mir selbst unerträglich scheint. Ich sah auch einen Kameraden weinen, aber aus einem anderen Grund. Er weinte um seine verlorenen Panzer, die sein ganzer Stolz waren. Und so unbegreiflich wie meine eigene Schwäche ist, so begreiflich ist es mir, dass ein Mann um totes Kriegsmaterial trauern kann. Ich bin Soldat und möchte glauben, dass die Panzer für ihn eben kein totes Material sind. Bemerkenswert in der Gesamtheit ist der Umstand, dass zwei Männer überhaupt weinen. Ich neigte immer leicht zu Tränen, ein erschütterndes Erlebnis, eine edle Tat ließ mich weinen. Im Kino war das ebenso der Fall oder wenn ich in einem Buch las oder ein Tier leiden sah. Ich trennte mich von der Umwelt und nahm an Gesehenem und Empfundenem Anteil. Verlorene materielle Werte habe ich dagegen nicht als Verlust empfunden. Also könnte ich auch nicht um Panzer weinen, die ohne Sprit in der offenen Steppe als Artillerie verwendet wurden und so mühelos zusammengeschossen sind. Dass dagegen ein untadeliger Mensch und tapferer Soldat, hart und unbeugsam, wie ein Kind weinte, darüber flössen nun in der Nacht meine Tränen.

Am Dienstag schoss ich mit meinem Wagen zwei T 34 [Panzer] zusammen. Die Neugier hatte sie hinter unsere Linien getrieben. Es war prächtig und eindrucksvoll. Nachher fuhr ich an den qualmenden Trümmern vorbei. Aus der Luke hing ein Körper, der Kopf nach unten, seine Füße waren festgeklemmt und brannten bis zum Knie. Der Körper lebte, der Mund stöhnte. Es müssen entsetzliche Schmerzen gewesen sein. Und es gab keine Möglichkeit, ihn zu befreien. Selbst wenn es diese Möglichkeit gegeben hätte, wäre er doch nach Stunden qualvoll gestorben. Ich habe ihn erschossen, und dabei liefen mir die Tränen über die Backen. Nun weine ich schon seit drei Nächten über den toten russischen Panzerfahrer, dessen Mörder ich bin. Die Kreuze vor Gumrak erschüttern mich und vieles, über das die Kameraden mit geschlossenem Mund hinwegsehen. Ich fürchte, nie mehr ruhig schlafen zu können, wenn ich heimkommen sollte zu Euch, Ihr Lieben. Mein Leben ist ein entsetzlicher Widerspruch. Ein psychologisches Unikum.

Ich habe jetzt eine schwere Pak übernommen und mir acht Mann, darunter vier Russen, organisiert. Wir neun schleppen die Kanone von einer Stelle zur anderen. Jedesmal, wenn sich der Wechsel vollzieht, bleibt ein brennender Panzer auf der Strecke. Es sind schon acht Stück geworden, und das Dutzend soll voll werden. Ich habe allerdings nur noch drei Schuss, und Panzerschießen ist nicht wie Billardspielen. In der Nacht aber weine ich haltlos wie ein Kind. Was soll das bloß noch werden?“

 

Der Verlag über das Buch „Letzte Briefe aus Stalingrad“ und den angeblichen Ursprung der Briefe (a.a.O., S. 67 ff.):

„Über die Herkunft der ‚Letzten Briefe aus Stalingrad‘ ließe sich eine abenteuerliche Geschichte schreiben, die Geschichte einer überorganisierten Partei- und Kriegsbürokratie mit ihren Zensoren, Schnüfflern und Bütteln. Denn die Briefe durchliefen vom Tag ihrer Beförderung aus dem Stalingrader Kessel an alle Stationen dieser Bürokratie. Man wollte aus ihnen ‚die Stimmung in der Festung Stalingrad kennenlernen‘ und ordnete deshalb im Führerhauptquartier an, die Post zu beschlagnahmen. Die Anordnung wurde als Befehl vom Oberkommando des Heeres an die Heeresfeldpost-Prüfstelle weitergegeben. Als die letzte Maschine aus dem Kessel in Nowo-Tscherkask landete, wurden sieben Postsäcke beschlagnahmt. Das war im Januar 1943. Die Briefe wurden geöffnet, Anschrift und Absender entfernt. Danach wurden sie, nach Inhalt und Tendenz geordnet, in sorgfältig verschnürten Bündeln dem Oberkommando der Wehrmacht übergeben.

Die statistische Erfassung der ‚Stimmung‘ besorgte die Heeresinformations-Abteilung und teilte sie in fünf Gruppen ein. Es ergab sich folgendes Bild:

Positiv zur Kriegführung: 2,1 %
Zweifelnd: 4,4 %
Ungläubig, ablehnend: 57,1 %
Oppositionell: 3,4 %
Ohne Stellungnahme, indifferent: 33,0 %

Nach der statistischen Erfassung und Kenntnisnahme gelangten die Briefe mit den übrigen Dokumenten über Stalingrad, mit Führeranweisungen, Befehlen, Funksprüchen und Meldungen – im ganzen etwa zehn Zentner Material –, in die Obhut eines PK-Mannes [Angehöriger einer Propaganda-Kompanie], der beauftragt worden war, ein dokumentarisches Werk über die Schlacht an der Wolga zu schreiben. Die oberste deutsche Kriegführung hätte sich gerne gerechtfertigt, aber die Sprache der Dokumente war eindeutig. So wurde das Buch verboten. ‚Untragbar für das deutsche Volk!‘ entschied der Propagandaminister. Danach wanderten die authentischen Abschriften der Briefe in das Heeresarchiv Potsdam, wo sie wenige Tage vor der Einnahme Berlins in Sicherheit gebracht und in unsere Tage herübergerettet wurden.“

 

(Titelfoto: Grabstein eines unbekannten russischen Soldaten
auf dem Soldatenfriedhof Brandau/Odenwald, August 2022)

 

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