Gedanken zum Krieg: Der Kriegsgefangenenfriedhof in Kameschkowo/Russland (Veröffentlicht am 14.06.2023, ergänzt am 17.06.2023)

Neben Briefen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit vermitteln auch Literaturquellen aus der damaligen Zeit einen anschaulichen Eindruck davon, was Krieg für die Menschen bedeutet und welch hohen Preis alle Soldaten und ihre Familien im Krieg zu bezahlen haben – zumeist ganz im Gegensatz zu jenen, die ihn politisch angefacht und initiiert haben. Es ist von zentraler Bedeutung, die Erinnerung an die Zeiten des Krieges und an seine Folgen wach zu halten, um zu verhindern, dass die immer gleichen Mechanismen einmal mehr in Ganz gesetzt werden und sich die Geschichte mit immer fataleren Folgen wiederholt.

An den Gräbern der auf dem Soldatenfriedhof in Hürtgen beerdigten Toten stehend, hat der damalige Bundespräsident Theodor Heuss die Bedeutung des Kriegsgedenkens in seiner Rede zur Eröffnung dieses Friedhofs am 17.08.1952 wie folgt formuliert:

„Sie waren Menschen wie wir. Aber an diesen Kreuzen vernehmen wir ihre Stimmen: ‚Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.‘“

Zu diesem Zweck sollen hier unter dem Titel „Gedanken zum Krieg“ Literaturauszüge wiedergegeben werden, die den Krieg und seine Folgen beschreiben, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

Grundsätzlich lesenswert sind die Publikationen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge („Volksbund“) bis ca. 2010. Die darin veröffentlichten Berichte und Kurzgeschichten beschreiben vielfach eingängig die Situation in der Nachkriegszeit und die Gefühlswelt der damaligen Menschen, die sich in einer Frage absolut einig waren: Nie wieder Krieg!

Ein gutes Beispiel ist der folgende Beitrag zum Kriegsgefangenenfriedhof in Kameschkowo/Russland aus dem vom Volksbund im Jahr 1999 herausgegebenen Band „Erzählen ist Erinnern“, S. 168 ff.:

 

Friedhof der Besiegten

von

Viktor Wekipelow

 

„Hinter der im Gebiet von Wladimir gelegenen Stadt Kameschkowo – hinter den niedrigen Anlagen des städtischen Gemüselagers und der Sickergrube der Viehfarmen, im reinen, nie welkenden Kiefernwald – erhob sich über viele Jahre ein mit den Jahren schwarz gewordener, drei Meter hoher Holzzaun. Dichtgefugt und geheimnisvoll, ohne eine einzige Pforte oder ein Schlupfloch; mit solchen Zäunen umgibt man gewöhnlich Gruben für Tierkadaver, allerlei Herde von Ansteckung, Pest und Maul- und Klauenseuche. Die Vorübergehenden machten einen Bogen um ihn, und die alten Beerensammlerinnen bekreuzigten sich hastig.

Hinter der undurchlässigen Umzäunung verbarg sich ein Friedhof deutscher Kriegsgefangener, Soldaten des Zweiten Weltkrieges, die an Verwundungen und Krankheiten fern ihrer Heimat gestorben waren, in diesem fremden russischen, holzgebauten Städtchen, das sie sicher nicht einmal im Traum gesehen hatten. Während des Krieges und noch einige Jahre nach seinem Ende befand sich in Kameschkowo ein Krankenhaus für deutsche Kriegsgefangene. Das Krankenhaus war in den zwei Gebäuden untergebracht, in denen sich jetzt die städtischen Schulen Nr. 2 und 3 befinden. Die kranken Deutschen wurden mit der Eisenbahn nach Kameschkowo gebracht, in roten Güterwaggons. Nach Augenzeugenberichten wurden sie stehend in die Waggons verladen und so zusammengedrängt, dass die Menschen aus den Waggons herausfielen, wenn die Türen geöffnet wurden – Lebende und die unterwegs Gestorbenen, alles ein einziges Durcheinander.

Die Behandlung im Krankenhaus war miserabel, es fehlte an Personal und Medikamenten, die Nahrung war Lagerkost, und die Menschen starben wie die Fliegen, die meisten nicht einmal an Krankheiten, sondern vielmehr an Hunger, unhygienischen Verhältnissen, zumeist jedoch aus Mangel an Pflege und an der Isolierung. Und was konnte es da tatsächlich schon für eine Behandlung geben, da für das Krankenhauspersonal hier doch nur ‚Faschisten‘ und ‚Fritzen‘ lagen, die konnte man nicht nur ohne echte Pflege lassen, man durfte ihnen obendrein noch einen Fußtritt geben. Nach Augenzeugenberichten wurden die Leichen in Unterwäsche – und manchmal auch ohne sie – zu einem Haufen auf ein Pferdefuhrwerk geschichtet, und ein tauber, schweigsamer Fuhrmann brachte sie hinter die Stadt, auf den Friedhof im Wald. Die Deutschen selbst stellten die Totengräber, die aus Rekonvaleszenten und Ordonnanzen rekrutiert wurden. Mit deutscher Gründlichkeit wurde jedes Grab mit behauenen Steinen eingefriedet; es war ihnen nicht erlaubt, darauf einen Namen einzumeißeln oder ein Kreuz aufzustellen, nur oben, am Kopfende, wurde die Registriernummer aufgepinselt.

Als der Friedhof schließlich von einem dichten Bretterzaun umgeben und nach der Auflösung des Krankenhauses auch noch das Tor fest verschlossen wurde, war jeder Zutritt unmöglich geworden. Die Jahre vergingen. In der ganzen Zeit, da der Friedhof umzäunt war, blieben die Gräber noch irgendwie erhalten: die Nummern wurden erneuert, die kleinen Erdhügel und die Steinumrandungen wurden nicht zerstört. Die Gräber waren dicht mit Gras bewachsen, mit den ledrigen Blättern der Preiselbeere, schon waren hie und da junge Kiefern und Birken gewachsen. Der Friedhof verschmolz allmählich mit dem Wald, löste sich in ihm auf.

Zum ersten Mal bin ich im Sommer 1973 auf diesem deutschen Waldfriedhof gewesen. Der Zaun stand damals noch, obgleich ein herausgefallenes Stück den Friedhof zum Teil dem Blick von außen freigab. Eine etwas unheimliche Verwahrlosung und ein Gefühl der Ungerechtigkeit wehte mir entgegen, als ich durch diese Bresche stieg. Damals wusste ich noch nicht, was ein Lagerfriedhof ist, doch dies war einer: regelmäßige Quadrate mit Nummern, so sieht eine Lagerbaracke aus, wenn die Häftlinge zur Arbeit gegangen sind. Ich zählte 460 Gräber, davon 19 Massengräber. Warum denn Massengräber? Hat es Epidemien gegeben? Im Gras unter dem Zaun entdecke ich einen umgedrehten, von einem der Gräber gestoßenen schweren Stein, in den ‚Rudi Mayer, 1908 – 1946‘ gemeißelt war.

Wer hatte diesen Stein aufgestellt? Hatte tatsächlich jemand aus der Heimat hierhergefunden? Wahrscheinlich war, dass sie das genaue Grab nicht gefunden und den Stein aufs Geratewohl aufgestellt hatten, Und jetzt hatte irgendjemand, dem all das völlig gleichgültig war, ihn ganz einfach ins Gestrüpp am Zaun hinabgestoßen. Ich sah noch einen Stein an einem der Gräber, aber das war auch schon alles: ‚Dr. Richard Spieler, 1914 – 1946‘.

Ich erinnere mich, dass ich mir schon damals die Frage stellte: Warum? Warum werden tote Sieger unter Marmorplatten begraben, auf denen ihre Namen in Goldbuchstaben eingemeißelt sind? Warum sind die Besiegten wie die Stiefkinder der Erde, wie am Straßenrand aufgelesene Vagabunden, wie ansteckende Tiere – versteckt hinter einem dichten Zaun, ohne Gräber und Namen, in verstreuten Gruben im Wald? Nun gut, sie waren Fremde, Aggressoren, Eindringlinge, Feinde … Doch sie kamen bereits ohne Waffen in den Händen in diese ferne Siedlung. Sie starben an Wunden und Hunger, an irgendwelchen Eiterherden, in einer fremden Gegend, wohin ein Machthaber sie geschleudert hatte und wo ein anderer sie, obwohl bereits besiegt und in Gefangenschaft, erniedrigte und kaum etwas unternahm, um sie zu heilen und zu ernähren. Und überhaupt: Im Tod gibt es keine Reinen und Unreinen, in ihm kann es keine Nationen, keine Klassen, keine Aggressoren, keine Feinde geben.

Es ist das letzte Recht eines jeden, menschenwürdig begraben zu werden, selbst als Aufrührer, Verbrecher, Sklave und Ausgestoßener – nicht auch eines dieser Rechte? Und ganz gewiss müssen Soldaten aller Armeen, selbst wenn sie auf fremdem Boden und mit der Waffe in der Hand gefallen sind, dieses Recht erhalten. Sie alle verdienen gleichermaßen Andenken, Achtung und Mitleid, denn sie alle erfüllten ja nur den Willen ihrer Regierungen. Diese Soldaten dürfen nicht der Schuld ihrer Regierungen wegen mit Füßen getreten werden. Erst fünf Jahre später, 1978, besuchte ich wieder diesen deutschen Friedhof. Mein Gott, was für ein schrecklicher Anblick bot sich da! Von jenem Holzzaun war kein Brett übriggeblieben. Und jener Ort war nicht mehr nur Schauplatz der Verwahrlosung und Auflösung, sondern der Schmähung und Plünderung.

Von vielen Gräbern war die Steinumrandung entfernt worden – jene bescheidene Einfassung, die die Hände der Landsleute, die vielleicht eine Woche später selbst eine Reihe weiter begraben worden waren, so sorgfältig gelegt hatten. Diese Steine waren jetzt von Diebeshand herausgebrochen, hier und da klafften in der Erde schwarze, frische Wunden. Einige Gräber, darunter ein Massengrab, waren ebenfalls halb ausgegraben; wer mochten die Grabräuber sein und was hatten sie hier gesucht? Auch der Wald ist schon dem Druck der Vorstadt gewichen. Der Friedhof ist von Kühen zertreten und verschmutzt (jetzt werden sie aus den Tierfarmen zu den Weiden direkt hier durchgeführt), er ist mit Unkraut und Gestrüpp zugewachsen und zu einem Müllabladeplatz geworden: verrostete Konservendosen, Glasscherben, irgendwelche vermoderten Lumpen.

Die Bevölkerung zeigt gegenüber dem Schicksal dieser Unglücklichen, die im Wald bei Kameschkowo liegen, ein unterschiedliches Verhalten: ‚Das sind doch Faschisten! Recht geschieht‘s ihnen! Sie haben doch getötet, gebrandschatzt!‘ Und doch glaube ich daran, dass mein schweigsames Volk in seiner Mehrzahl die Besiegten nicht richtet. Sie mögen schweigen, einen Bogen machen und wegsehen, aber innerlich erfüllt sie Scham. Sie begreifen, haben Mitleid und unterscheiden sich wenigstens darin von der grausamen und gleichgültigen Staatsmacht, die nicht nur Feinde, sondern auch Millionen eigener Bürger in die sibirischen, namenlosen Gruben des Gulag geworfen hat.

Nachdem ich einige Aufnahmen gemacht hatte, ging ich noch einmal, schweren Herzens, an allen diesen traurigen, namenlosen Grabhügeln entlang. Wer waren diese Menschen, namenlos, bis auf Rudi Mayer und Dr. Spieler? Wie hießen sie, wie hatten sie ausgesehen, wer liebte sie und wartete auf sie? Denn sie alle hatten irgendwo Hinterbliebene: Mütter, Ehefrauen, Verlobte, die vielleicht noch immer ungetröstet sind und für sie beten, die vielleicht viel für ein Wort, für die Antwort auf das ‚Wo?‘ geben würden. Sie aber sind hier – eingehüllt von einem fernen Wald bei Wladimir, unter einem dreißig Jahre währenden Schweigen, ausgestoßen und geschmäht.“

 

Der Kriegsgefangenenfriedhof in Kameschkowo/Russland wurde im Jahr 1995 wiederhergestellt, nach Angaben des Volksbundes ruhen dort „circa 1.611 Tote“.

 

(Titelfoto: Zwei von zahlreichen zertrümmerten Grabsteinen auf dem
Soldatenfriedhof Bitburg-Kolmeshöhe, September 2022)

 

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