Fragen & Antworten
Die landläufig verbreitete „Legende“ zeichnet viele der sich zu Julius Erasmus stellenden Fragen vor. Zu einigen davon sollen nachfolgend erste Antworten gegeben werden, wie sie sich nach derzeitigem Recherchestand darstellen. Diese sollen nicht mehr bieten als einen ersten Überblick; ausführliche Erläuterungen nebst Angabe der zugrundeliegenden Quellen bleiben dem finalen gedruckten Werk vorbehalten.
Stand der Angaben: 1. November 2024.
1. War Julius Erasmus „Pionierhauptmann“?
Sehr wahrscheinlich nicht. In keinem der bisher geprüften Register findet sich ein Hinweis darauf, dass er auch nur Offizier gewesen ist. Er wurde 1938 einberufen und war bei Kriegsausbruch Angehöriger eines Pionier-Ersatz-Bataillons. Aus diesem wurde er jedoch bereits im Herbst 1940 aus unbekanntem Grund entlassen. Er hatte schon in jungen Jahren nachhaltige gesundheitliche Probleme, was der Grund für die Entlassung gewesen sein könnte. Ob und wo er im unmittelbaren Anschluss daran Dienst tat, ist bislang nicht zu ermitteln.
Dokumente aus den Jahren 1944 und 1945 sprechen dafür, dass Julius Erasmus jedenfalls gegen Kriegsende als Zivilangestellter der Wehrmacht tätig war. Dies offenbar im damaligen Festungspionierstab 22 in Düren.
2. War Julius Erasmus vor dem Zweiten Weltkrieg „Textilfabrikant“?
Sehr wahrscheinlich nicht. Er stammt aus einer alteingesessenen Familie Aachener Tuchfabrikanten, war jedoch gelernter Landwirt und übte diesen Beruf nach eigenen Angaben bis Mitte der 1930er Jahre aus. Vor seiner Einberufung in die Wehrmacht im Jahr 1938 scheint er zuletzt als Buchhalter in einem holzverarbeitenden Betrieb im Hürtgenwald tätig gewesen zu sein.
3. Lebte Julius Erasmus bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Aachen?
Sehr wahrscheinlich nicht. Er wurde in Aachen geboren und wuchs dort auf, verließ die Stadt aber vermutlich in den 1920er Jahren. Er dürfte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg länger im Raum Vossenack gelebt haben. Während des Zweiten Weltkrieges war eine Adresse in Vossenack als seine Heimatanschrift registriert. Auch die Julius Erasmus zugeschriebene Aussage „Im Sommer 1945 kam ich nach Vossenack zurück“ würde – sofern sie tatsächlich erfolgt und wahr ist – darauf hindeuten, dass er bereits vor dem Krieg dort gelebt hat.
4. Was hat Julius Erasmus nach dem Zweiten Weltkrieg genau getan?
Julius Erasmus dürfte bei Kriegsende vermutlich in Niedersachsen, wohin seine Dienststelle evakuiert worden war, in Kriegsgefangenschaft geraten sein. Einem Dokument der Militärverwaltung ist seine Entlassung in den Regierungsbezirk Aachen für Mai 1946 zu entnehmen, kurz darauf dürfte er nach Vossenack zurückgekehrt sein.
Vossenack und die umliegenden Dörfer waren bei den Kämpfen um den Hürtgenwald vollständig zerstört worden und boten ein Bild totaler Verwüstung. Als Teil des Wiederaufbaus waren zunächst die noch vor Ort befindlichen gefallenen und mitunter nur notdürftig oder gar nicht bestatteten Soldaten zu bergen und zu beerdigen. Ein ebenso wichtiger wie schwieriger Bestandteil dieser Arbeit war die Identitätsfeststellung dieser Soldaten, deren Angehörige bis dahin im Regelfall nur eine Vermisstenmeldung erhalten hatten und die seit Jahren um ihren Verbleib bangten. Gelang die Identifizierung eines Gefallenen, wurden dessen Angehörige benachrichtigt und erlangten so Gewissheit über dessen Schicksal; anderenfalls wurde der entsprechende Soldat als „unbekannt“ bestattet.
Diese Aufgaben übernahm Julius Erasmus, wobei er anfänglich von dem damaligen Vossenacker Dorfpfarrer Dr. Werner Eschweiler unterstützt wurde.
Zunächst übte Julius Erasmus seine Tätigkeit offenbar im wesentlichen allein und ohne Entlohnung aus. Anscheinend noch im Jahr 1946 wurde er von der Gemeinde Vossenack dafür bezahlt, und es wurden ihm einige Hilfskräfte zur Unterstützung zur Verfügung gestellt. Ab der Währungsreform im Juni 1948 musste die Gemeinde ihre Unterstützung einstellen, woraufhin Erasmus seine Tätigkeit wieder unentgeltlich fortsetzte. Im September 1949 wurde er vom Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. angestellt, der den Aufbau des Soldatenfriedhofs in Vossenack übernommen hatte. Im April 1951 wurde Erasmus zunächst befristet in die Dienste des damaligen Landkreises Monschau übernommen, ab Februar 1952 dann unbefristet. Er wurde der erste Wärter des am 31. August 1952 eröffneten Soldatenfriedhofs in Vossenack und war als solcher neben der Umbettung und Identifizierung gefallener Soldaten auch für die Pflege von deren Gräbern zuständig und stand den Angehörigen als Ansprechpartner zur Verfügung.
Julius Erasmus erlangte für sein Tun bundesweite Bekanntheit. Zahlreiche Presseberichte befassten sich seit Anfang der 1950er Jahre mit dem „Totengräber von Vossenack“ und seiner Geschichte. Einige Elemente der heutigen Legende dürften in dieser Berichterstattung ihren Ursprung haben.
Seine Tätigkeit übte Julius Erasmus offiziell bis zu seiner Pensionierung im Februar 1960 aus, „inoffiziell“ sogar darüber hinaus. Noch im Juni 1960 wurden offenbar mehrere Gefallene durch ihn beigesetzt.
5. Hat Julius Erasmus „1569 deutsche Gefallene im Hürtgenwald“ geborgen?
Dass Julius Erasmus gänzlich allein eine derart große Anzahl Gefallener geborgen hat, ist unwahrscheinlich, wird aber nicht mit letzter Sicherheit zu ermitteln sein.
Bereits der Ursprung der Zahl von „1569 deutschen Gefallenen“, die immer wieder zu lesen ist, ist unbekannt. Sie scheint aus Zeitungsberichten aus den 1950er Jahren übernommen worden zu sein, in denen diese Zahl ebenso zu finden ist wie andere. In einem im Internet abrufbaren Interview aus dem Jahr 1959 erwähnte Julius Erasmus selbst beispielsweise, am 10. Juni des Jahres den 1592. Gefallenen geborgen zu haben (vgl. auch den Artikel zu diesem Interview hier). In einem weiteren Interview erklärte er im Folgejahr, 1600 „geborgen und hier beigesetzt bzw. mitgeholfen (zu haben), (diese) beizusetzen“. Er selbst wies also durchaus auf die Beteiligung Dritter an den Bergungen hin.
Zumindest Folgendes kann man wohl derzeit als gesichert ansehen:
Ab August 1949 bis zur Pensionierung von Julius Erasmus Anfang 1960 sind auf dem Soldatenfriedhof Vossenack die sterblichen Überreste von mehr als 2100 Personen „zugebettet“ worden. Das heißt, sie wurden von ihrem ursprünglichen Ort dorthin verbracht, also „umgebettet“. Es handelt sich zumeist um gefallene deutsche Soldaten, aber auch um Minensucher und durch Kriegseinwirkung getötete Zivilisten. Jede einzelne dieser Umbettungen wurde schriftlich dokumentiert und protokolliert, die Richtigkeit der Angaben war durch zwei Zeugen schriftlich zu bestätigen. Die Aufzeichnungen über diese Umbettungen existieren noch und wurden überprüft. Jedes einzelne dieser sog. Umbettungsprotokolle hat Julius Erasmus als „Leiter der Umbettungskolonne“ unterschrieben. An der Bergung und Bestattung dieser Toten hat er demnach in leitender Position teilgenommen, gemeinsam mit seinen Helfern.
Zudem beschränkten sich die Bergungen nicht auf das Gebiet des heute sog. Hürtgenwaldes – bestehend aus den ehemaligen Forsten Hürtgen, Merode, Roetgen und Wenau -, sondern reichten mitunter deutlich darüber hinaus. So erfolgten Umbettungen auf den Soldatenfriedhof Vossenack in erheblicher Anzahl beispielsweise aus Kalterherberg und Losheim.
Zu berücksichtigen ist auch, dass Ziel von Bestattungen und Umbettungen gefallener Soldaten zunächst der Vossenacker Gemeindefriedhof bei der Kirche war, nach Ausweisung des Geländes des heutigen Soldatenfriedhofs wurden sie nachfolgend dorthin umgebettet. Nicht wenige Gefallene dürften also durchaus mehrfach und durch unterschiedliche Personen umgebettet worden sein.
6. Worin liegt die Bedeutung des Tuns von Julius Erasmus?
Das Tun von Julius Erasmus auf die Anzahl der geborgenen Toten zu reduzieren, erfasst die menschliche Dimension seiner Bemühungen nur unvollständig.
Auf die Frage nach den Beweggründen für sein Tun verwies er selbst in Interviews immer wieder auf die Gewissheit, die er den Angehörigen über den Verbleib ihres vermissten Familienmitglieds habe verschaffen wollen. Dies sei seine Motivation gewesen, um wieder und wieder „hinauszugehen“, Schicksale aufzuklären und dann die Angehörigen zu benachrichtigen. In Presseberichten aus der damaligen Zeit wird dies dahingehend zusammengefasst, Julius Erasmus habe den Toten ihre Namen wiedergegeben. Dies trifft sicherlich zu, jedenfalls für diejenigen, die identifiziert werden konnten.
Dass der Wunsch, den bangenden Angehörigen Gewissheit zu verschaffen, nicht nur eine Behauptung ist, lässt sich seiner überlieferten Korrespondenz mit zahlreichen Angehörigen entnehmen. Dabei nahm er sich vielfach selbst denjenigen an, die keinerlei Anhaltspunkte für den Verbleib ihres vermissten Familienmitglieds hatten, sondern in ihrer Verzweiflung auf gut Glück an den durch die Presseberichterstattung zwischenzeitlich weithin bekannt gewordenen Julius Erasmus schrieben und ihn um Hilfe baten. Dass er versucht hat, den Angehörigen die quälende Ungewissheit über den Verbleib des vermissten Familienmitglieds zu nehmen, scheint wesentlich bedeutender als die Frage, wie viele Gefallene er letztlich wo geborgen hat und ob er dies allein tat oder gemeinsam mit anderen.
Für ihre Arbeit wurden Julius Erasmus und Pfarrer Dr. Eschweiler bereits im Jahr 1952 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
7. Lebte Julius Erasmus „über 15 Jahre in einer Hütte am Wald, in der Nähe des Friedhofes“?
Als Wärter des Soldatenfriedhofs in Vossenack lebte Julius Erasmus in der sog. „Wärterbaracke“ in unmittelbarer Nähe des Friedhofs. Dieses Gebäude existiert bis heute, es befindet sich allerdings auf Privatgelände und ist für Unbefugte nicht zugänglich.
8. Verließ Julius Erasmus Vossenack in den 1960er Jahren und hat sich „seine weitere Spur verloren“?
Als Anerkennung für seine Bemühungen hatte Julius Erasmus ein lebenslanges kostenloses Wohnrecht in der Wärterbaracke am Soldatenfriedhof Vossenack. Offenbar infolge nachhaltiger Streitigkeiten vor allem mit seinem Nachfolger als Friedhofswärter verließ er Vossenack im Jahr 1963 und zog nach Heimbach-Blens, im Folgejahr zog er weiter nach Nideggen-Abenden. Er verstarb am 3. September 1971 im Krankenhaus in Lendersdorf.
9. Weiß bis heute niemand, wo sich das Grab von Julius Erasmus befindet?
Der Friedhof und die (ehemalige) Grablage sind bekannt. Julius Erasmus wurde auf dem Friedhof in Nideggen-Abenden beigesetzt. Die dortige Ruhefrist endete im Jahr 2001 und wurde nicht erneuert, das Grab wurde daraufhin eingeebnet und neu vergeben.
10. Wird an die Tätigkeit von Julius Erasmus von staatlicher Seite erinnert und wenn ja, in welcher Form?
Im Jahr 2004 wurde man beim Landesverband Nordrhein-Westfalen des Volksbundes deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. auf die Geschichte von Julius Erasmus aufmerksam und beschloss, „dem alten Pionierhauptmann“ eine Ehrung zukommen zu lassen. Diese bestand aus der Errichtung eines Gedenksteins auf dem Soldatenfriedhof Vossenack unmittelbar an dem sog. Hochkreuz vor dem Gräberfeld und einer sog. „Legendentafel“ im Eingangsbereich des Friedhofs, auf welcher Julius Erasmus und seine Tätigkeit näher beschrieben wurden. Der diesbezügliche Text entsprach im wesentlichen „der Legende“.
Unter der Schirmherrschaft des schon damals amtierenden Landrats des Kreises Düren, Wolfgang Spelthahn, und unter Beteiligung u. a. des Volksbundes sowie der damaligen Bürgermeister der Gemeinden Hürtgenwald, Heimbach und Nideggen, in denen Julius Erasmus vor seinem Tode zuletzt gewohnt hatte, wurde beides im Rahmen einer offiziellen Gedenkveranstaltung am 21. Mai 2005 eingeweiht.
Nach Auskunft von Landrat Spelthahn vom 16. Juli 2021 hat der Kreis Düren die besagte „Legendentafel“ im Einvernehmen mit dem Landesverband Nordrhein-Westfalen des Volksbundes offenbar Anfang Juni 2021 wieder vom Vossenacker Soldatenfriedhof entfernt. Es habe es sich bei der Tafel „nicht in erster Linie um eine ‚Erinnerungstafel‘ an Julius Erasmus“ gehandelt, sondern „allgemein um eine Informationstafel über die Kriegsgräberstätte Vossenack“. Diesen Zweck erfüllten sechs im Juni 2015 errichtete neue Informationstafeln in größerer Ausführlichkeit, so dass es der ursprünglichen Tafel nicht mehr bedürfe.
Zum Thema der Informationstafel zu Julius Erasmus und ihrer Entfernung durch den Kreis Düren im Jahr 2021 finden Sie weitere Artikel hier und hier.
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