Gedanken zum Krieg: Gustave M. Gilbert, „Nürnberger Tagebuch“ – Mechanismen der Motivierung des Menschen zur Teilnahme an Krieg und der Beseitigung von Widerstand (Veröffentlicht am 17.05.2024)

Wenn man sich die Frage stellt, wie es zu bestimmten politischen Entwicklungen, insbesondere Diktaturen und Kriegen, kommen konnte, ist ein Blick in das Buch „Nürnberger Tagebuch – Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen“ des amerikanischen Psychologen Dr. Gustave M. Gilbert sehr lohnenswert lohnend.

 

I.   Gustave M. Gilbert und sein „Nürnberger Tagebuch“

Gustave M. Gilbert wurde am 30.09.1911 in New York City geboren und verstarb am 06.02.1977 in Manhasste/NY. Als Sohn deutschsprachiger Eltern war er im Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der US Army und wurde bei Gefangenenverhören eingesetzt. Nach dem Krieg wurde er aufgrund seiner Deutschkenntnisse an den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg berufen, wo er die Angeklagten des ersten Hauptkriegsverbrecherprozesses begutachtete und hierfür mit ihnen ausführliche Einzelgespräche führte. Diese Gespräche dokumentierte er in einem ausführlichen Tagebuch, in dem er auch detaillierte sachliche und atmosphärische Angaben zur Reaktion der Angeklagten auf das Verfahren machte. Über diese Gespräche berichtete er später in dem besagten „Nürnberger Tagebuch“, das erstmals im Jahr 1962 erschien.

 

II.   Gilbert, Göring und die Motivierung des Volkes zum Krieg

Besonders bemerkenswert ist ein in diesem Tagebuch dokumentiertes Gespräch, das Gustave M. Gilbert mit dem früheren zweiten Mann im NS-Staat, Reichsmarschall Hermann Göring, zu der Frage führte, mit welchen Maßnahmen das Volk dazu gebracht werden könne, einen Krieg zu unterstützen und wie sich Widerstand beseitigen lasse.

Die entsprechende Seite 270 aus dem „Nürnberger Tagebuch“ (11. Aufl. (2001)), ist hier aufrufbar:

 

 

Gilbert berichtet dort:

„Wir kamen dann wieder auf das Kriegsthema, und ich sagte, dass ich glaubte, im Gegensatz zu seiner Einstellung sei das einfache Volk nicht sehr dankbar für Führer, die ihm Krieg und Zerstörungen bescheren.“

 

Darauf Göring:

„Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.“

 

Gilbert wandte ein:

„Nur mit einem Unterschied: In einer Demokratie hat das Volk durch seine gewählten Volksvertreter ein Wort mitzureden, und in den Vereinigten Staaten kann nur der Kongress einen Krieg erklären.“

 

Darauf wiederum Göring:

„Oh, das ist alles gut und schön, aber das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.“

 

III.   Denkanstoß

Die Frage, weshalb „irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt“, ist bis in die heutige Zeit ebenso berechtigt wie aktuell. Ebenso unverändert sind die Methoden, mit denen Menschen zur Teilnahme an politischen Agenden bewegt werden sollen, in denen sie selbst oft nichts zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren haben.

Wer darauf achtet, kann beobachten, wie häufig politische Protagonisten die altbewährte Methode, denjenigen mit von der Regierungslinie abweichenden Ansichten die Gefährdung der anderen vorzuwerfen, bis in die heutige Zeit einsetzen und zwar häufig mit Erfolg.

In der Tat: Weshalb sollte Irgendjemand „im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt“? Und weshalb sollte eine Politik, die dem Wohl des Menschen zu dienen vorgibt, dies überhaupt und in dem Wissen, dass „das einfache Volk natürlich keinen Krieg will“, nicht nur von ihm verlangen, sondern sogar perfide psychologische Taktiken einsetzen, um ihn – entgegen seiner eigenen Interessen – zum Mitmachen und Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen?

Seien wir aufmerksam und lassen wir uns nicht länger spalten. Sagen wir nein.

 

(Titelfoto: US-Soldatenfriedhof Henri-Chapelle/Belgien,
Oktober 2018)

 

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