Episoden des Krieges: „Heiligabend 1944 – quälende Fragen“ von Hilda Birnbaum (Veröffentlicht am 20.12.2024)
In einer Publikation des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge erzählt Hilda Birnbaum die Geschichte von fünf jungen Flakhelferinnen am Heiligen Abend des Jahres 1944 (Hilda Birnbaum, „Heiligabend 1944 – quälende Fragen“, aus: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Unter den Sternen – Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit (2006), S. 168 f.):
„Ohne Gesang, ohne Lichter, ohne Kerzen, ohne Geschenke. Erwartung und Freude waren erloschen. Selbst die Natur hatte sich nicht in ein weißes, von Schnee und glitzerndem Raureif überzogenes Festkleid gehüllt. Auch ihr wurden tiefe Wunden geschlagen. Kein Glockengeläut kündete wie zur Friedenszeit den hohen Festtag an. Die Glocken waren längst zu Kanonen eingeschmolzen.
Die einfache Stube war wenigstens warm. Ganz spärlicher alter Schmuck, oft auch beschädigt, zierte noch das kleine Tannenbäumchen, das an seinem angestammten Platz stand. Ein schwarz umrandetes Bild stand auf dem Schreib tisch. Der Sohn war gefallen. Riss so viele Hoffnungen mit in den Tod.
Ein zaghaftes Läuten an der Haustüre. Draußen standen fünf junge Mädchen in grauer Uniform. Verpflichtet als Flakhelferinnen. Hingesetzt, nicht weit vom Dorfrand entfernt, zu schwerem Abwehrgeschütz einer Flakbatterie. Nur wenig entfernt der große Scheinwerfer, der bei Dämmerung und Nacht grell aufleuchtend den Himmel absuchte. Feindliche Flugzeuge brachen fast pausenlos in das Gebiet ein. Verbreiteten Angst und Schrecken.
Durchgefroren und bedrückt wärmten sich die jungen Mädchen am Ofen. Tranken dankend die warme Milch, aßen das dazu gereichte Brot. Und dann brach bei allen das tief verdrängte Heimweh durch. Tränen rannen beim Erzählen. Die jungen Gesichter von Angst und Bangen gezeichnet. Sich überstürzende Fragen: Wo sind meine Eltern, meine Geschwister? Steht mein Elternhaus noch, meine liebe Umgebung? Oder ist längst alles von Bomben zerstört? Wie wird unser nächster harter Einsatz sein? Werden wir verschont beim nächsten Fliegerangriff? Wie lange müssen wir noch im Kriegsdienst stehen? Fragen, die mit jedem Wort Angst freigaben und die Gesichter quälten. Die Not junger Seelen konnte nur tiefstes Erbarmen hervorrufen.
Und es war Weihnacht. Keine Post, kein Päckchen aus der Heimat. Das Gefühl von Verlassensein mischte sich bei. Ungewissheit kann unsagbar quälend sein.
Sirenengeheul! Erschrocken, in der Eile noch die Äpfel, das Brot in die Tasche steckend, rannten fünf junge Mädchen ihren Stellungen zu. Keine Gelegenheit mehr, nach Adressen zu fragen.
Was ist aus ihnen geworden? Wir haben nichts mehr von den jungen Flakhelferinnen gehört.“
(Titelfoto: Morgendlicher Raureif in einem Wald bei Düsseldorf,
Dezember 2016)
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