Gedanken zum Krieg: „Jugend unterm Schicksal“ – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949 (Veröffentlicht am 08.02.2025)

„Jugend unterm Schicksal“ – Eine Sammlung von Lebensläufen jugendlicher Deutscher aus Zeiten von Totalitarismus und Krieg

Im Jahr 1950 veröffentlichte der Christian Wegner Verlag in Hamburg unter dem Titel „Jugend unterm Schicksal – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949“, herausgegeben von Kurt Haß, eine Sammlung von Auszügen aus Lebensläufen, die deutsche Jugendliche mit ihrer Meldung zum Abitur in den besagten Jahren einreichten. Darin beschreiben sie jeweils ihre individuellen Erfahrungen mit der NS-Zeit, dem Krieg und den Nachkriegswirren und die Schlüsse, die sie hieraus für sich und ihre Zukunft gezogen haben. Entstanden ist eine eindrückliche Dokumentation der damaligen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aus jugendlicher Sicht, die zwischen den Zeilen nicht selten mehr erkennen lässt als die meist eher neutrale Sprache ausdrückt und die unverändert lesenswert ist, wenn es einmal mehr darum geht, den Anfängen von Totalitarismus und Krieg zu wehren.

 

Johann St., damals 21 Jahre alt, beschreibt seine Erfahrungen wie folgt (aus Kurt Haß, Jugend unterm Schicksal – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949 (1950), S. 57 ff.):

„… Kaum war ich im August eine Woche entlassen, da lag schon der Gestellungsbefehl von der Wehrmacht vor. Ich hatte zunächst in Neumünster eine acht Wochen lange harte Ausbildungszeit durchzumachen. Dann nahm das große Reiseleben seinen Anfang. Für den Winter über ging‘s nach Fallingbostel bei Hannover und von dort im März 1944 nach Norwegen, und zwar in verschiedene Orte um Oslo. Die Überfahrt bei klarem Wetter und ruhiger See hat mir tiefe Eindrücke gegeben. Das großartige Bild des Oslofjordes ist mir unvergesslich. Norweger selbst habe ich nicht kennengelernt; sie verhielten sich uns gegenüber sehr verschlossen. Länge waren wir ohnehin nicht dort.

Als im Westen die Invasion eben begonnen hatte, wurde unsere Division nach Frankreich verlegt und kam hier im Juli bei Caen zum Einsatz. Mit welcher Übermacht uns der Feind dort entgegentrat, das war ungeheuerlich. Am 9. August wurde ich durch Granatsplitter am rechten Knie, in der linken Hüfte und am linken Arm verwundet. Nach einer ersten Operation auf dem Hauptverbandsplatz begann jener entsetzliche Rücktransport von einer Krankensammelstelle zur nächsten, wo man dauernd die Luftangriffe fürchtete und doch nicht fähig war, sich auch nur zu bewegen. Nach einer langen Fährt kam ich endlich in ein Reservelazarett in Chemnitz. Als auch diese Stadt durch den Krieg schwer getroffen wurde, kam ich von dort nach Bad Harzburg. Hier erlebte ich das Kriegsende. Man brachte uns in ein Gefangenenlazarett nach Goslar, und von dort wurde ich nach Heilung der Wunden im September 1945 entlassen. Die Beweglichkeit des rechten Kniegelenks war fast völlig verlorengegangen und wird auch nicht wiederkommen. Damit habe ich für mein Leben eine Last zu tragen, mit der ich mich abfinden muss. Gesund war ich hinausgezogen, als Kriegsbeschädigter kehrte ich nach Hause zurück.

Es ist klar, dass die politischen und militärischen Ereignisse von so ungeheurem Ausmaß mich auch innerlich zur Auseinandersetzung gezwungen haben. Wie die meisten meiner Kameraden glaubte auch ich, der Nationalsozialismus sei etwas Großes. Dass ich die Hitlerjugend ablehnte, änderte nichts daran; denn ich meinte, sie hätte mit dem Kern der Bewegung wenig gemein. Ich glaubte weiter, der Krieg sei uns aufgezwungen, wir würden ihn gewinnen, kurz, ich hielt das, was man täglich durch Zeitung und Rundfunk vernahm, für Wahrheit. Und ist das bei der jugendlichen Leichtgläubigkeit und einem solchen Aufwand von Propaganda ein Wunder, da sogar die Schule das gleiche lehren musste und auch nicht den leisesten Versuch einer kritischen Betrachtung machen durfte? Erst der völlige Zusammenbruch hat das Gebäude der Illusion gänzlich Zusammenstürzen lassen.

Schon in der Rekrutenzeit entdeckte ich so manche krasse Widersprüche. Da hatte man uns gepredigt, der Soldatendienst sei Ehrendienst am Volk. Ich aber habe die Erfahrung gemacht, dass man eher als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde. Der erste Eindruck war der einer Gefangenschaft; wochenlang durften wir die Kasernen nicht verlassen. Und die Behandlung, die man sich durch die Unteroffiziere gefallen lassen musste, war eines Menschen unwürdig. Ich habe nur die traurige Beobachtung gemacht, dass viele es nicht so empfunden haben, sondern sich noch ganz wohl dabei fühlten. Hatte man später einmal das Glück, auf Urlaub zu fahren, warum durfte man dann nicht alle Züge benutzen? Dann musste man häufig auf dem Bahnsteig stehenbleiben, während die Zivilisten in ihrem Sonntagsstaat einstiegen und der Zug unbesetzt abfuhr. Und warum waren für Militärtransporte Viehwagen gerade gut genug? War es weiter geeignet, den Soldatenrock als einen Ehrenrock anzusehen, wenn man Männer, die sich in der Heimat vergangen hatten, zur Strafe an die Front schickte? Und wie bald musste ich die uns eingeimpften Ansichten um den fanatischen Kampfeswillen der deutschen Soldaten ändern! Unter den Mannschaften habe ich überhaupt keinen einzigen gefunden, der mit Begeisterung gekommen wäre. Das war ich auch nicht; aber im Gegensatz zu vielen anderen hatte ich es doch für meine selbstverständliche Pflicht gehalten. Und wie anders, als es in vielen Büchern geschildert wird, sieht das Heldentum der Soldaten in Wirklichkeit aus! Gewiss mag es ein erhebendes Gefühl sein, im Paradeschritt am General vorbeizumarschieren; im Kriege aber habe ich nichts bemerkt vom jubelnden Vorwärtsstürmen, nichts von begeisterten Hochrufen und lachender Todesverachtung. Ein Mensch bleibt Mensch, auch wenn er den grauen Rock anzieht, und sein Heldentum besteht im geduldigen Ertragen von Mühen, Schmerzen und Todesgefahr. Was mir in schweren Tagen einen Halt gegeben hat, war der Glaube, dass alles dennoch seinen Sinn haben würde, und die Hoffnung, dass es einmal wieder besser werden würde.

Erst mit dem Ende des Krieges wurde mir klar, auf welch falschem Grund die Hoffnung auf den Sieg ruhte, denn sie stützte sich auf das unbedingte Vertrauen zu Adolf Hitler. Jetzt erkannte ich, wie verhängnisvoll ein System ist, das auf blindem Gehorsam aufgebaut ist. Ich hatte schon manches kritisch betrachtet; wäre ich konsequent gewesen, dann hätten mir trotz aller Vergötterung Adolf Hitlers wenigstens Bedenken kommen müssen. Ich hätte finden müssen, dass es ganz und gar unmöglich ist, dass ein einzelner Mensch in einem solchen Krieg den Sieg verbürgen oder dass er allein für sein Volk die Verantwortung tragen könne. Das habe ich erst aus dem Zusammenbruch gelernt. Und ich bin darüber hinaus zu der Einsicht gekommen, dass ich für jede Handlung, die ich beginne, vor mir selbst die Verantwortung trage und dass kein zweiter sie mir abnehmen kann. Im Mittelpunkt allen Denkens aber muss unantastbar der Wert des Menschen stehen, damit wir das gewinnen, was unserer Zeit fehlt, die Achtung vor der Heiligkeit des Menschenlebens. Ich bin mir aber auch bewusst, wie eng die Grenzen menschlicher Macht gezogen sind und wie wenig wir am großen Ablauf der Ereignisse um uns her ändern können…“

 

Das machtvollste Mittel gegen die Wiederholung der Geschichte sind Erinnerung und Gedenken.

 

(Titelfoto:
Soldatenfriedhof Vossenack, März 2022)

 

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