Episoden des Krieges: „Klaus“ von Johanna Ruger (Veröffentlicht am 03.01.2025)
In einer Publikation des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge erzählt Johanna Ruger die Geschichte ihres im Dezember 1946 geborenen Halbbruders Klaus, der im Januar 1947 verstarb (Johanna Ruger, „Klaus“, aus: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Unter den Sternen – Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit (2006), S. 186 f.):
„Im Juni 1945 kehrten wir von Danzig, wohin wir geflüchtet waren, nach Ostpreußen zurück. Dort begann für uns eine grausame Zeit unter den Russen. In Ostpreußen waren wir als Zivilisten vogelfrei: keine Lebensmittel, keine Schule, kein Schutz. Dann wurden wir wie Vieh verladen und landeten nach zehn Tagen Fahrt in Pirna.
Der Winter war da, mit Kälte, aber wenig Schnee. Wir wussten 1946 nicht, wie wir Weihnachten begehen sollten. Eine Brotzuteilung bekamen wir auch an diesen Tagen nicht, nur die Menschen, die zum Arbeiten noch Kraft hatten. Wir Kinder waren uns selbst überlassen und suchten nach Essbarem. Bei den Russen fanden wir Kartoffelschalen, die wir auf dem offenem Feuer rösteten. Wir bettelten, und die Kleinen bekamen auch gelegentlich ein bisschen Brot, so auch meine Schwester. Sie war acht Jahre alt und sah erbärmlich aus.
Am Heiligen Abend blieben wir Kinder alle zusammen und wollten etwas Essbares stehlen. Wir hatten großen Hunger. Das Magazin wurde nach einem Spähgang als zu gut bewacht erkannt. Also versuchten wir es bei russischen Privatleuten, bei denen wir Licht brennen sahen. Wir machten am Fenster Krach und lenkten die Bewohner ab. Andere schlichen sich ins Haus, und so klappte es. Zu später Stunde hatte jeder etwas Essbares in Händen. So wird man, von der Not getrieben, zum Dieb. Freudig, doch noch satt zu werden und mit der Mutter teilen zu können, rannte jeder seiner Behausung zu.
Zu dieser Zeit bekamen viele Frauen nach Vergewaltigungen Kinder. Manche starben gleich, manche warf man weg, oder irgendjemand versuchte das zarte Leben zu erhalten. Eine Frau mit drei Mädchen versuchte, auch den Jungen am Leben zu erhalten. Die Töchter litten sehr darunter, dass sie von der Mutter geschickt wurden, Hafer zu stehlen, woraus dann Schleim gekocht wurde. Die hundert Gramm Zucker, die die Mutter für ihre schwere Arbeit mit Pferd und Pflug erhielt, bekam der Junge ebenfalls. Diese einfachen Dinge wurden damals zum Drama.
Nun kamen die drei freudig an, in ihren Händen das Gestohlene. In der Stube war es dunkel, die Ofentüre stand offen, nur die Holzglut spendete Licht. So fanden die Kinder die Mutter mit Klaus, wie der Junge heißen sollte. Sie legten die Kartoffeln in die Ofenglut, aßen die Brotbrocken, und unter dessen war es Heilige Nacht. Sie sangen wirklich noch Weihnachtslieder. Sehr müde kuschelten sie sich aneinander, in der Hoffnung, eine störungsfreie Nacht zu haben. Es konnte ja passieren, dass die bestohlenen Russen Rache nahmen.
Am 25. Dezember begann das langsame Sterben des Kleinen. Die Familie hatte doch alles gegeben, damit er leben sollte. Am 26. Dezember kam der alte Mann, so sagten sie zu Herrn Fritz Fischer, den Kleinen zu taufen, und sie erlebten es und waren sehr ergriffen. Noch im Januar 1947 gegen Mittag starb der kleine Klaus, nachdem er sie schon angelächelt hatte.
Dieser Junge war mein Bruder, die tapfere Frau meine Mutter.“
(Titelfoto: Landschaft bei Düsseldorf,
Dezember 2022)
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