Zum Gedenken: Lodewijk Johannes Timmermans und der deutsche Soldatenfriedhof in Ysselsteyn/Niederlande (Veröffentlicht am 05.05.2023)

Auf diesem Blog soll auch an diejenigen erinnert werden, die sich ganz ähnlich wie Julius Erasmus für die Bergung, Identifizierung und Bestattung Gefallener eingesetzt und sich im Sinne der Angehörigen bemüht haben, den Toten ihre Namen wiederzugeben. Über Gerda Dreiser aus Bitburg, Toni Latschrauner aus Meran und Nikolai Orlow aus Nowgorod wurde bereits berichtet.

Eine ähnlich bemerkenswerte Geschichte ist die des ehemaligen niederländischen Widerstandskämpfers Lodewijk Johannes Timmermans, dem späteren Verwalter des deutschen Soldatenfriedhofs in Ysselsteyn/Niederlande. Der heute einzige deutsche Soldatenfriedhof in den Niederlanden ist Ruhestätte von fast 32.000 Toten. Er wurde ab 1946 vom Niederländischen Gräberdienst (Nederlandse gravendienst) angelegt, alle Gräber deutscher Soldaten in den Niederlanden wurden dorthin überführt.

Von 1948 bis 1976 wurde der Friedhof durch Hauptmann Lodewijk Johannes Timmermans verwaltet. Zunächst freiwilliger Wehrpflichtiger und nach der holländischen Kapitulation Angehöriger des Widerstandes gegen die deutschen Besatzer, trat er nach der Befreiung wieder in den Militärdienst ein, wo er in der Minen- und Munitionsbeseitigung eingesetzt wurde. Durch die Explosion einer deutschen Holzmine erblindete er im März 1945 zeitweise auf beiden Augen. In einem kanadischen Lazarett in Turnhout/Belgien kam er in Kontakt mit einem verwundeten deutschen Soldaten, der sich nach Ausheilen seiner Verwundung nach Kräften um den blinden Timmermans kümmerte. In gleicher Weise widmete sich Lodewijk Johannes Timmermans später nach Besserung seines Gesundheitszustands der Bergung und Identifizierung der toten deutschen Soldaten und der Betreuung ihrer Angehörigen.

Ein Artikel in der Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge“ des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge aus dem Jahr 1976 beschreibt die außergewöhnliche Geschichte von Lodewijk Timmermans wie folgt (Artikel „Ein Mann ohne Beispiel“ von Horst Morgenbrod, Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge“ des Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge, Ausgabe 4/1976):

„‘Ich habe die Deutschen gehasst!‘ Das gibt er unumwunden zu. Die Bomben auf Rotterdam waren ein Schlüsselerlebnis für ihn. Und wenn er erzählt, wie er verfolgte Juden über die belgische Grenze schmuggelte (‚Die Angst in ihren Augen zu sehen, das war schrecklich‘), wenn es sich seufzend seinem Herzen entringt: ‚Was die Deutschen damals den Juden angetan haben, das vergesse ich nie‘, dann durchzieht ein Schweigen den Raum. Dennoch signalisieren die Zeichen dieses Raumes, die Bilder an den Wänden, die Karteikästen, die Ordner mit Dankschreiben, dass das ‚Damals‘ für ihn vorüber ist. Ein Stück Geschichte auch des eigenen Lebens wurde bewältigt, fruchtbar für die Zukunft gemacht.

Wir sprechen von einem Mann ohne Beispiel. Er ist Integrationsfigur zwischen den Niederlanden und Deutschland, unwiederholbar in dieser Art und einmalig in der von ihm selbst gewählten Aufgabe. Wir sprechen von Hauptmann Ludwig Johann Timmermans, der im April 1976 im Alter von 60 Jahren pensioniert wurde, dem einstigen Widerstandskämpfer gegen die Deutschen, der 28 Jahre lang deutsche Kriegsgräber auf dem Soldatenfriedhof Ysselsteyn anlegte, pflegte, unbekannte Tote identifizierte, Besuchergruppen führte, Angehörige benachrichtigte und ihnen oftmals ein letztes Zeichen ihres toten Sohnes oder Vaters übersandte.

Der Soldatenfriedhof Ysselsteyn ist das letzte deutsche Gräberfeld im westlichen Ausland, das bisher noch nicht unmittelbar vom Volksbund betreut wurde. Nach mehreren Gesprächen im niederländischen Außenministerium in Den Haag konnte 1975 eine Verbalnote formuliert werden, die das Verfahren für die endgültige Übernahme des deutschen Soldatenfriedhofes Ysselsteyn durch die Bundesrepublik Deutschland und damit in die Obhut des Volksbundes festlegt.

(…)

Fast 32.000 deutsche Gefallene ruhen in niederländischer Erde. Sie wurden damals, 1944/45, dort begraben, wo sie fielen, ohne viel Umstände, und die, die sie begruben, hatten andere Sorgen, als der Identifizierung oder Beisetzung des Feindes ‚mit militärischen Ehren‘ besondere Sorgfalt zuzuwenden. So kam es, dass der Volksbund in den ersten Nachkriegsjahren feststellen musste: Sechzig Prozent dieser Toten sind nicht identifiziert. Diese hohe Zahl erklärt sich aus dem Umstand, dass der überwiegende Teil jener 20.000 Deutschen, die nach der Invasion in Holland fielen, nicht von den eigenen Kameraden beigesetzt werden konnte.

Wie aber kam ein niederländischer Hauptmann dazu, einen Friedhof für die Toten des Gegners anzulegen und zu betreuen? Auch hierfür gibt es ein Schlüsselerlebnis. Timmermans hatte sich während der deutschen Besetzung einer Widerstandsgruppe angeschlossen. Um Haaresbreite hätten ihn die Deutschen erwischt, besser gesagt, sie hatten ihn eigentlich schon. Lassen wir den Hauptmann selbst erzählen:

‚Als ich wieder einmal einen Verfolgten über die Grenze gebracht hatte, lief ich in die Arme eines deutschen Feldwebels. Aus, dachte ich mir; doch als der Deutsche anfing zu reden, merkte ich, dass er niederrheinischen Dialekt sprach, und zwar, ähnlich wie ich, Kevelaerer Mundart. Da snackte ich ihn frech, stolz und gottesfürchtig im gleichen Dialekt an, fragte ihn, wo er denn herkomme. Nach seinem Bescheid: ‚Kevelaer‘, erwiderte ich: ‚Da habe ich auch noch einen Onkel namens Spiska.‘ ‚Mensch‘, meinte der Deutsche, ‚den kenn‘ ich aber gut!‘ Und dann schaute mich der Deutsche nachdenklich an, grinste, blickte sich sichernd um und rief mir zu: ‚Mensch, mach bloß, dass du wegkommst‘. Timmermans sagt lächelnd: ‚Sie können mir glauben, das ließ ich mir nicht zweimal sagen.‘

Doch 1945 erwischt es ihn dennoch, wenn auch auf andere Art. Er gehörte einem niederländischen Minensuchkommando an, trat auf eine deutsche (von den Russen übernommene) Holzmine – und bekam die Ladung voll ins Gesicht. Timmermans: ‚Ich war blind.‘ Glücklicherweise hat sich sein Augenleiden heute so gebessert, dass er seine Sehkraft fast vollends wiedererlangt hat.

Die Monate in einem kanadischen Kriegslazarett veränderten das Weltbild des Hauptmann Timmermans. Mit ihm lagen Holländer, Kanadier, Belgier, Amerikaner und auch Deutsche im Hospital. Timmermans war der einzige, der Deutsch sprach (oder sprechen wollte). Neben ihm lag ein verwundeter deutscher Bauernsohn vom Bodensee; den Namen hat er vergessen, und alle Mühen, diesen Mann nach dem Kriege wieder aufzuspüren, sind fehlgeschlagen.

Dieser deutsche Bauernsohn pflegte den schwerverletzten und ‚im Dunkel‘ lebenden Holländer Timmermans mit solcher Selbstverständlichkeit und Hingabe, dass dieser zutiefst davon angerührt wurde. Timmermans gibt zu, dass es im Lazarett in seinem persönlichen Hass gegen die Deutschen ‚einen Bruch‘ gab.

Doch der unbekannte Deutsche vom Bodensee war nicht die Ursache für Timmermans Wandlung, er war höchstens ein Werkzeug für den Anstoß. ‚Ich bin von Hause aus sozial erzogen worden‘, sagte er in der ihm eigenen Bescheidenheit, er meint wohl eher ‚menschlich erzogen‘. Dazu kamen verwandtschaftliche Bindungen über die Grenze weg, so dass Timmermans die Aufforderung der zuständigen Dienststelle seines Landes, doch mal 14 Tage aushilfsweise eine Vertretung in Ysselsteyn zu übernehmen (man schrieb das Jahr 1948) ohne Vorbehalt annahm. Heute lächelt er: ‚Daraus sind dann 28 Jahre geworden.‘ Die Holländer haben den kargen, unwirtlichen Boden des Soldatenfriedhofes in eine würdige Stätte verwandelt.

Durch Unterpflügen von Lupinen wurde der Boden verbessert, dass er die Rasendecke trägt; bereits bis 1950 hatten die Holländer das Ödland mit mehr als 68.000 Bäumen und Sträuchern bepflanzt.

Der jetzige Belegungsstand, sieht so aus: 74 deutsche Kriegstote aus dem Krieg 1914/18, davon acht Unbekannte. 31.502 deutsche Gefallene aus dem Zweiten Weltkrieg, davon 31.213 in Einzelgräbern in 116 Gräberfeldern. Namentlich bekannt davon sind 26.216. Jedes einzelne Grab ist mit einem Betonkreuz versehen, auf dem eine Kunststoffplakette mit Namen und Lebensdaten des Toten angebracht ist. Die Lebensdauer dieser Betonkreuze ist allerdings gering, nach zehn Jahren sind sie verwittert und müssen erneuert werden – mit ihnen die Plaketten. Hauptmann Timmermans musste alljährlich etwa 3.500 dieser Grabzeichen erneuern. Nach der Übernahme des Friedhofes durch den Volksbund ist vorgesehen, die Betonkreuze durch Natursteinkreuze zu ersetzen. Das kostet Geld – viel Geld sogar.

Auch nach seiner Pensionierung und der Übergabe der Kriegsgräberstätte an die Deutschen wird er dem Volksbund verbunden bleiben. Rückschauend drängt sich die Frage auf, ob er denn durch sein bewusstes Eintreten für ‚die Deutschen und ihre Toten‘ in all den Nachkriegsjahren nicht Anfeindungen seiner Landsleute auf sich gezogen habe. Aber er kann diese Frage mit einem klaren Nein beantworten.

Wir nannten Ludwig Johann Timmermans eine deutsch-niederländische Integrationsfigur. Dass er diese Funktion nicht nur schematisch, sondern auch in kritischer Erkenntnis der unterschiedlichen ‚nationalen Merkmale‘ der beiden Völker ausübt, wird deutlich, wenn wir seine Antwort auf unsere Frage hören, was seiner Meinung nach die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Völkern seien. Erste Reaktion: ‚Wir Holländer sind etwas kritischer gegenüber der Obrigkeit eingestellt als die Deutschen.‘ Auch im Verhältnis zu Kindern gibt es differierende Verhaltensweisen. Positiv bewertet der Holländer vor allem das deutsche ‚Organisationstalent‘. Schreckvokabeln für die Niederländer aber sind jene Worte, die nicht nur im deutschen Erziehungswesen eine so bedeutsam historische und aktuelle Rolle spielen: ‚Zucht und Ordnung‘.

Wirken sich diese Nationaleigenschaften auch bei den vielen hunderttausend Besuchern aus der Bundesrepublik aus, die den Soldatenfriedhof in Ysselsteyn besuchten? Timmermans schätzt, dass es jährlich etwa 50.000 sind, die ihren stillen Gruß auf dem deutschen Soldatenfriedhof niederlegen – sei es durch Blumen, sei es durch ein kurzes Gebet, sei es durch eine Spende, sei es einfach in jenem stillen, für sich selbst verbindlichen Gedenken. Man sollte annehmen, dass die Zahl der Besucher allmählich abnehmen müsste – ‚logisch‘, je mehr die Erinnerung an das, was damals Furchtbares geschehen ist, verblasst. Aber Hauptmann Timmermans stellt eine Konstante im Besucherstrom fest, ja er meint sogar, gemessen an dem, was in die Spendenkassette fließt, könne man eher auf einen umgekehrten Trend schließen.

Als wir ihn vor einiger Zeit besuchten, um dieses Gespräch mit ihm zu führen, lag auf dem Tisch ein Feldgebetsbuch vom letzten Krieg. Abgegriffen, mit einem rührenden Bildchen von Kindern, von einer Frau zwischen den Blättern und einer Anschrift aus dem Bergischen Land. Wir blätterten in diesem späten Zeugnis eines Soldatenschicksals, denn es gehört zu dem erst jetzt wieder aufgefundenen Nachlass eines Toten vom Soldatenfriedhof Ysselsteyn. Hauptmann Timmermans hat unzählige Angehörige deutscher Soldaten in den letzten Jahrzehnten mit solchen persönlichen Hinterlassenschaften eines lieben Anverwandten überrascht. Plötzlich springt uns aus diesem Gebetsbüchlein wieder die Erinnerung an: Krieg, Grausamkeit, Angst, Verzweiflung, Elend und Verderben. Die Frage greift uns ans Herz: Haben wir das wirklich überwunden? Männer wie Hauptmann Timmermans sind lebendige Zeugnisse für diese Hoffnung. Und viele Idealisten inner- und außerhalb des Volksbundes sind ‚Timmermans Friedenslegion‘.“

 

Herrn Timmermans wurde für seine Verdienste um den Soldatenfriedhof in Ysselsteyn, um die dortigen Toten und ihre Angehörigen im Jahr 1958 der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Lodewijk Johannes Timmermans, geboren am 4. April 1916, starb am 28. Februar 1995 im Alter von 78 Jahren. Wie von ihm gewünscht, wurde sein Leichnam eingeäschert und die Asche über den Friedhof in Ysselsteyn verstreut, die Straße zum Friedhof trägt heute seinen Namen. Dort erinnert an ihn ein schlichter Gedenkstein ohne weitere Informationen zu seiner Person und seinem Tun.

 

(Titelfoto: Gedenkstein für Lodewijk Johannes Timmermans
auf dem deutschen Soldatenfriedhof Ysselsteyn, Mai 2023)

 

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