Zum Gedenken: Nikolai Orlow und die Gefallenen von Mjasnoi Bor (Николай Орлов и павший Мясной Бор) (Veröffentlicht am 26.06.2024, zuletzt ergänzt am 09.07.2024)

Auf diesem Blog soll auch an diejenigen erinnert werden, die sich ganz ähnlich wie Julius Erasmus für die Bergung, Identifizierung und Bestattung Gefallener eingesetzt und sich im Sinne der Angehörigen bemüht haben, den Toten ihre Namen wiederzugeben. Über Gerda Dreiser aus Bitburg, Toni Latschrauner aus Meran und Lodewijk Johannes Timmermans in Ysselsteyn wurde bereits berichtet.

 

I.  Die „Wälder der Toten“

Den Rahmen für die Tätigkeit von Julius Erasmus nach dem Zweiten Weltkrieg bildet bekanntlich die Schlacht im Hürtgenwald im Herbst und Winter 1944/45. Die harten und verlustreichen Kämpfe und die Verwüstung des zuvor lebendigen Waldes führten dazu, dass die zeitgenössische Berichterstattung das Leiden der gefallenen Soldaten nicht selten begrifflich mit dem Leiden der Natur verband und vom Hürtgenwald als dem „Totenwald“ sprach. Solche „Totenwälder“, in denen im Zweiten Weltkrieg in großem Umfang Soldaten umkamen, gibt es auch anderenorts. Ein besonders gravierendes Beispiel ist das sumpfige Waldgebiet von Mjasnoi Bor nordwestlich des gleichnamigen Dorfes in der Region Nowgorod im Westen Russlands. In dem schwer zugänglichen Gelände blieben nach dem Zweiten Weltkrieg zehntausende gefallener sowjetischer Soldaten zunächst unbeachtet, bis sich Nikolai Orlow ihrer Bergung annahm.

Eine Geschichte mit frappierenden Parallelen zu der von Julius Erasmus und der Schlacht im Hürtgenwald.

 

II.   Mjasnoi Bor und der Zweite Weltkrieg

Das Dorf Mjasnoi Bor (russisch Мясной Бор, übersetzt „Fleischwald“) und das gleichnamige Waldgebiet in dessen Nordwesten, dem Smerti-Tal, spielten im Zweiten Weltkrieg in der sog. Schlacht am Wolchow eine wesentliche Rolle. Die Schlacht am Wolchow, auch „Ljubaner Operation“ genannt, war eine ab dem 7. Januar 1942 durch die sowjetischen Truppen der sog. „Wolchow-Front“ begonnene Offensive, welche die deutsche Blockade von Leningrad durchbrechen sollte. Im Rahmen dieser Operation wurde die sowjetische 2. Stoßarmee durch deutsche Truppen eingekesselt und bis Ende Juni 1942 vollständig vernichtet.

Die folgende Beschreibung beruht auf den vorstehend zitierten Schilderungen bei Wikipedia, ausführliche ergänzende Informationen zur Schlacht am Wolchow finden sich in dem Artikel „Fighting on the Volkhov Front: The First Soviet Counteroffensive at Leningrad“.

 

1. Das Dorf und der Wald Mjasnoi Bor

Das Dorf Mjasnoi Bor, dessen Anfänge bis in das 15. Jahrhundert zurückreichen, liegt im Westen Russlands zwischen dem Ilmensee und dem Ladogasee im Bezirk Nowgorod ca. 30 Km nördlich der gleichnamigen Stadt und ca. 100 Km südlich von St. Petersburg. Unmittelbar östlich fließt die Pitba, ein Nebenfluss des bis zu 600 Meter breiten Wolchow, dessen weiträumige Überschwemmungszonen das Gebiet und die umliegenden Wälder vielfach sumpfig machen. Die nahe der Ortschaft parallel zum Wolchow verlaufende Straße zwischen Chudowo und Nowgorod war im Zweiten Weltkrieg eine sog. Rollbahn, die einen Brennpunkt der Schlacht am Wolchow bildete. In dem Waldgebiet nordwestlich von Mjasnoi Bor ereigneten sich im Rahmen dieser Schlacht ab Anfang 1941 blutige und opferreiche Kämpfe zwischen deutschen und sowjetischen Truppen.

 

2. Die Schlacht am Wolchow

Nach der Blockade von Leningrad wurde der Vormarsch der deutschen Truppen Ende Dezember 1941 in der Schlacht um Tichwin gestoppt. Die Front verlief zu dieser Zeit entlang der Eisenbahnlinie Mag – Kirischi und am Wolchow, wo die Truppen der 18. deutschen Armee denen der sowjetischen Wolchow-Front (4., 52. und 59. sowjetische Armee) und des linken Flügels der Leningrader Front (54. sowjetische Armee) gegenüberstanden. Die deutsche Blockade von Leningrad sollte durch eine Offensive beseitigt werden, wofür der Wolchow-Front die 2. sowjetische Stoßarmee neu unterstellt wurde.

 

 

Am 14. Januar 1942 durchbrachen die Truppen dieser 2. Stoßarmee an mehreren Stellen die deutschen Verteidigungslinien, in denen auch spanische Truppen der 250. Infanteriedivision (sog. „Blaue Division“) mitwirkten, und errichteten einen Brückenkopf am westlichen Wolchow-Ufer. Am Folgetag eroberten sie Mjasnoi Bor und das gleichnamige Waldgebiet, bis zum 17. Januar war die deutsche Front vollständig durchbrochen. Die Breite des Einbruchsraums erweiterte sich schnell auf 25 Km, blieb jedoch bei Mjasnoi Bor mit 3 bis 4 Km deutlich schmaler. Bis Ende Januar 1942 war die 2. Stoßarmee fast 75 Km vorgedrungen und stand mit der Eisenbahnlinie Nowgorod – Leningrad an einem der Zugänge zu der Stadt Ljuban. Nachdem der Vorstoß keine wesentlichen Fortschritte machte, konzentrierte das sowjetischen Oberkommando seine Bemühungen im Februar 1942 auf die Eroberung der Orte Spaskaja Polistje und Ljuban. Hierfür wurden drei Armeen mit insgesamt mehr als 230.000 Mann zusammengezogen, welche den Durchbruch auf Ljuban erzwingen sollten. Nicht zuletzt aufgrund der Zuführung von auf deutscher Seite andernorts freigemachter Reserven gelang dies nicht.

Ab dem 15. März 1942 ging die deutsche Seite zur Gegenoffensive über, riegelte den sowjetischen Durchbruch ab und kesselte die 2. Stoßarmee am 19. März 1942 ein. Am 27. März 1942 konnten die 52.und 59. sowjetische Armee die Einkesselung aufbrechen, der Zugang zu den Stellungen der 2. Stoßarmee bei Mjasnoi Bor blieb jedoch auf wenige Kilometer beschränkt. Hier setzten die deutschen Truppen an und schnitten die 2. Stoßarmee, die seit dem 16. April 1941 durch General Andrei Andrejewitsch Wlassow kommandiert wurde, erneut ab.

Trotz der schwierigen Lage bestand der Oberbefehlshaber der sowjetischen Wolchow-Front, General Michail Semjonowitsch Chosin, auf einer Fortsetzung der Offensive gegen Ljuban. Erst am 30. April 1942 wurde der Angriff abgebrochen und der abgeschnittenen 2. Stoßarmee befohlen, in ihren Positionen zur Verteidigung überzugehen. Ohne Nahrung, Medikamente und Munition mussten die sowjetischen Soldaten in dem morastigen Gelände in wassergefüllten Stellungen ausharren. Der kommandierende General Chosin schlug in einem Bericht am 11. Mai 1942 vor, die 2. Stoßarmee unter Aufgabe der zuvor erzielten Geländegewinne über den Wolchow zurückzuziehen. Die Genehmigung wurde am 21. Mai erteilt, der Rückzug begann am 24. Mai.

Die deutsche Armee erkannte jedoch die Absicht des sowjetischen Rückzugs und schloss den schmalen Rückzugskorridor bei Mjasnoi Bor am 30. Mai 1942 endgültig. Nach Heranführung weiterer Reserven begannen die deutschen Truppen ab dem 22. Juni mit der Zerschlagung der eingeschlossenen sowjetischen Truppen. Bei letzten Ausbruchsversuchen der 2. Stoßarmee am 24. und 25. Juni wurden die sowjetischen Truppen fast vollständig aufgerieben, bis zu 20.000 sowjetische Soldaten sollen allein bei diesem Ausbruchsversuch gefallen sein.

Am 12. Juli geriet General Wlassow, der sich zuvor versteckt hatte, in deutsche Gefangenschaft. Er wechselte nachfolgend die Seiten und baute später die sog. „Russische Befreiungsarmee“ („Russkaja Oswoboditelnaja Armija“ („ROA“)), auch „Wlassow-Armee“ genannt, auf, die ab Spätherbst 1944 und bis kurz vor Kriegsende an der Seite Hitler-Deutschlands kämpfte.

Die Schlacht am Wolchow scheiterte im Ergebnis, die sowjetischen Truppen erlitten gravierende Verluste. Schätzungen reichen für alle beteiligten sowjetischen Verbände von rund 95.000 Toten und Vermissten sowie mehr als 213.000 Verwundeten bis zu 149.000 Toten und 253.000 Verwundeten.

 

III.   Die Verdammung der 2. Stoßarmee

Während die Deutschen ihre Gefallenen weitgehend mitgenommen hatten, blieben die zahllosen sowjetischen Gefallenen von Mjasnoi Bor, die im wesentlichen der 2. Stoßarmee angehörten, über Jahrzehnte sich selbst überlassen. Vor allem aufgrund des sumpfigen, nur schwer zugänglichen Geländes, aber auch aufgrund der Beteiligung von General Wlassow, dem Kommandeur der Einheit zu dieser Zeit. Nach seinem Überlaufen im deutscher Gefangenschaft war er kurz vor Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft geraten und wurde am 1. August 1946 u.a. wegen Verrats hingerichtet.

Sein Verhalten wurde auch den von ihm kommandierten Truppen angelastet, in diesem Fall der bei Mjasnoi Bor eingesetzten 2. Stoßarmee. Obwohl in der Schlacht am Wolchow bewährt, überhaupt erst ab April 1942 durch General Wlassow kommandiert und mit der von ihm erst mehr als zwei Jahre später aufgestellten Russischen Befreiungsarmee schon zeitlich in keinem Zusammenhang stehend, wurde die 2. Stoßarmee schon aufgrund ihrer Verbindung zu Wlassow vielfach als „Verräterarmee“ angesehen, deren Tote keine weitere Aufmerksamkeit verdienten.

Die Frage, ob womöglich ein Zusammenhang zwischen Wlassows späterem Verhalten und dem Umstand besteht, dass das sowjetische Oberkommando in der Schlacht am Wolchow „seiner“ bereits abgeschnittenen 2. Stoßarmee zunächst die Fortsetzung der Offensive gegen Ljuban befohlen, ihr dann nach Abbruch der Offensive bei Mjasnoi Bor ungeachtet völlig unzureichender Versorgung über Wochen den Rückzug verweigert und so die folgende Tragödie befördert hatte, wurde offenbar nur selten gestellt.

 

IV.   Nikolai Orlow und die Gefallenen von Mjasnoi Bor

Es war der aus Nowgorod stammende Nikolai Iwanowitsch Orlow, der sich als Erster der Toten von Mjasnoi Bor annahm (vgl. hierzu näher die russischsprachigen Berichte „Das Tal der Erinnerung“ der „Suchexpedition Dolina“ mit vielen historischen Fotos sowie „Expedition in die Vergangenheit – Wie die Suchbewegung geboren wurde“ von Ljudmila Owtschinnikowa vom 22.06.2015).

 

 

Geboren am 14.05.1927, war er die Familie während des Krieges evakuiert, sein Vater Iwan Iwanowitsch kämpfte an der Front gegen die Deutschen. Nach Kriegsende und der Heimkehr des Vaters war das Leben in dem zerstörten Nowgorod nicht möglich, der als Eisenbahnarbeiter tätige Iwan kam daher im Jahr 1946 mit seiner Familie nach Mjasnoi Bor. Nikolai Orlow begann, sich für das Sweti-Tal, inzwischen als „Tal des Todes“ (russisch Долина Смерти) bezeichnet, und die dort inmitten zerstörter Fahrzeuge und Ausrüstung liegenden Reste der gefallenen Soldaten zu interessieren.

Nikolai Orlow wird wie folgt zitiert (Übersetzung aus der russischen Sprache):

„Das ‚Tal des Todes‘, wie es genannt wurde, lag zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt und erstreckte sich 12 Kilometer landeinwärts, entlang des Waldes. Alles war verbrannt und von zerfetzt. Selbst das Gras wuchs nicht mehr.

(…)

Es war bitter und beleidigend, dass die Soldaten, die für unser Land gekämpft hatten, nicht begraben wurden. Als ob sie keine Menschen wären. Ich war sehr besorgt, als ich dieses schreckliche Bild sah. Überall waren vergilbte Schädel zu sehen. Es schien mir, dass es hier Tausende von ihnen gab.

(…)

Ich wusste bereits, dass es möglich war, festzustellen, wer hier gestorben war: Wenn man in der Tasche eines Toten eine schwarze Plastikkapsel findet, befindet sich darin ein verdrehtes Stück Papier, auf dem Name, Vorname und Vatersname, der Einberufungsort des Kämpfers, seine Heimatadresse und Informationen über Verwandte stehen. Und ich begann, nach diesen Kapseln zu suchen, (…).“

 

Fand er solche Kapseln, schrieb er an die darin genannte Adresse und informierte über den Verbleib des bis dahin vermissten Familienmitglieds. Er erhielt dankbare Antworten von Hinterbliebenen, die neben dem Aufschluss über das Schicksal ihres Angehörigen nun auch Anspruch auf eine staatliche Rente hatten. Die Familien vermisster Soldaten hatten einen solchen Anspruch nicht. Nikolai Orlow erkannte den Wert seiner Tätigkeit und intensivierte sie, fast seine ganze Freizeit verbrachte er mit der Suche nach den toten Soldaten. Bei Mjasnoi Bor wurde ein erster Soldatenfriedhof angelegt.

Dann trat Nikolai Orlow bei seiner Suche auf eine Mine und wurde schwer verletzt. Von seiner Arbeit hielt ihn dies nicht ab, bei erster Gelegenheit nahm er seine Suche wieder auf. Mitte der 1960er Jahre zog die Familie Orlow in das Dorf Podberez’ye, rund 10 Km nördlich von Nowgorod, im Jahr 1966 zog sie weiter in einen Rangierbahnhof bei Trubichino nahe Nowgorod. Nikolai Orlow führte seine Tätigkeit im „Tal des Todes“ jeweils von seinem neuen Wohnort aus fort.

Anfang 1968 zog er nach Nowgorod und nahm eine Tätigkeit bei dem Chemieunternehmen „Azot“ auf. Nachdem er dort von seiner Tätigkeit im „Tal des Todes“ berichtet hatte, schlossen sich ihm erste Kollegen als freiwillige Helfer an, um ihn bei der Suche zu unterstützen. Schon im Folgejahr war ihre Anzahl auf rund 200 angewachsen. Durch die Berichterstattung in Presse und Fernsehen und die Bemühungen des bekannten Schriftstellers Sergej Smirnow erlangte Nikolai Orlows Tun landesweite Aufmerksamkeit, was seinen Suchbemühungen weiteren Zulauf verschaffte.

Nikolai Orlow verstarb am 13. Dezember 1980 nach langjähriger schwerer Krankheit, er wurde nur 53 Jahre alt.

 

V.   Die Gründung der „Suchexpedition Dolina“ in Nowgorod

Seine Tätigkeit wurde durch Suchteams aus verschiedenen Landesteilen fortgeführt, z. B. durch eine Studentengruppe von der Universität Kazan. Im Sommer 1987 beschlossen die Suchteams, ihre Tätigkeit in einem Verband zu konzentrieren, der seinen Sitz in Nowgorod haben sollte – im Februar 1988 gegründeten „Suchexpedition Dolina“ (russisch Поисковая экспедиция «Долина»). Der erste Leiter der Expedition wurde Nikolais Bruder, der Nowgoroder Journalist Alexander Iwanowitsch Orlow.

Im August 1988 führte „Dolina“ eine erste groß angelegte Suche durch, in deren Rahmen die rund 500 Beteiligten auf den Schlachtfeldern der 2. Stoßarmee im Raum Nowgorod innerhalb von zehn Tagen die Überreste von 3.500 Gefallenen fanden. Im Jahr 1989 wurden die Suchaktivitäten auf weitere Bezirke der Region Nowgorod ausgeweitet, in denen es bis dahin nur kleinere Suchteams gab, z. B. nach Demjansk und Staraja Russa.

Über einen Besuch bei Mjasnoi Bor berichtet ein Artikel mit dem Titel „Der Vergessenheit entrissen“ von Alexej Warfolomejew, der 1999 in dem Buch „Erzählen ist Erinnern“ des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge veröffentlicht wurde. Darin werden die Suchbemühungen durch Nikolai Orlow und seine Brüder u. a. wie folgt beschrieben (vgl. „Erzählen ist Erinnern“ (1999), S. 207 ff.):

„Wir sind in Mjasnoi Bor angelangt. Dieses Dorf ist schon einige Jahrhunderte alt. Alexander Orlow, mein Fahrer, sagt: ‚Von Nowgorod 30 Kilometer.‘ Er ist der jüngste von ehemals fünf Brüdern und wurde hier in Mjasnoi Bor geboren – allerdings erst nach dem Krieg. Der älteste Bruder, Jewgeni, fiel schon 1943 im Alter von nur achtzehn Jahren an der Front. Nikolai, der zweitälteste, war Streckenwärter bei der Eisenbahn. Fast täglich ging er in den Wald, der sich dunkel hinter den Gleisen erhob.

In den harten Nachkriegsjahren ernährte der Wald die Menschen mit Beeren und Pilzen. Außerdem konnte man hier, an den Stätten der einstigen Kämpfe, viele nützliche Dinge finden – eine Axt, eine Säge, einen Spaten oder Ersatzteile für alle möglichen technischen Geräte. Selbst einen amerikanischen Lastwagen konnte man sich dort holen, sofern er noch zu reparieren war. Auf diesen amerikanischen Kraftwagen waren im Krieg die Raketenbatterien – Katjuschas – montiert worden. Beim Ausbruch aus dem Kessel wurden die Wagen betriebsuntauglich gemacht und zurückgelassen, weil es für sie ohnehin keine Munition mehr gab. Diese verrosteten Fahrzeuge stehen heute noch in dem Wald; durch einige von ihnen sind inzwischen Bäume hindurchgewachsen.

Nikolai Orlow kehrte des öfteren mit einer Handvoll Erkennungsmarken aus dem Wald zurück. Zu Hause holte er aus den Kunststoff- oder Metallkapseln Papierstreifen hervor und schrieb Briefe an die von den gefallenen Soldaten angegebenen Adressen ihrer Angehörigen. Bald gingen mit Nikolai auch die anderen Brüder in den Wald. Und dann geschah ein Unglück: Waleri trat auf eine Panzermine und wurde in Stücke gerissen. Darauf folgte das zweite Unglück: Durch den Splitter einer explodierenden Granate wurde Juri getötet. Nur Nikolai und Alexander waren jetzt noch übrig geblieben. Sie gingen nun zu zweit in den Wald. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug zwanzig Jahre.

Über ihren ersten ‚Streifzug‘ erzählte mir Alexander Orlow: ‚Überall schimmerten weiße Knochen. Davon gab es eine Unmenge. Unter mehreren Hunderten unserer Toten haben wir damals nur einer einzigen Deutschen gefunden. ‚Die Deutschen haben den Ihrigen bestimmt nicht entdeckt‘, sagte mein Bruder, ‚denn sonst haben sie alle ihre Toten mitgenommen.‘ Davon konnte ich mich später selbst überzeugen. In den langen Jahren, da wir in den Wald gingen, fanden wir in Mjasnoi Bor nur einige Dutzend Deutsche.‘

Der Schriftsteller Sergej Smirnow war ein Gesinnungsgenosse von Nikolai Orlow. Gemeinsam versuchten sie, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Tal des Todes bei Mjasnoi Bor mit den unbestatteten Gebeinen von Soldaten der 2. Stoßarmee zu lenken. 1969 drehten Dokumentarfilmer aus Leningrad nach einem Buch von Smirnow den Film ‚Der Kommandant des Tals des Todes‘ – eben so nannte Smirnow Nikolai Orlow. In diesem Film wurde die bittere Wahrheit über die gefallenen Soldaten berichtet, die man einfach auf dem Schlachtfeld hatte liegen lassen. Der Film aber wurde nie gezeigt.

Nikolai Orlow hatte allein Hunderte Erkennungsmarken aufgelesen und Briefe an die Verwandten der Gefallenen geschrieben. Er wurde zum Initiator einer Bewegung, die sich die Bestattung der Gebeine von Tausenden dieser Soldaten und deren Identifizierung zur Aufgabe gemacht hat. Auch Nikolai Orlow lebt heute nicht mehr. Zweimal war er im Wald auf eine Mine getreten und hatte sich dabei erhebliche Verletzungen zugezogen. Verstorben ist er 1980 an einem schweren Asthmaleiden.

An der Autostraße, über die ich mit Alexander Orlow und seinem Motorrad nach Mjasnoi Bor gefahren bin, liegen drei Massengräber. Das eine wurde schon während des Krieges, noch vor der Einkreisung, angelegt. Hier hatten die Soldaten ihre gefallenen Kameraden begraben. In dem zweiten Grab wurden die Gebeine von 6000 Gefallenen beigesetzt, die in den fünfziger Jahren von den Angehörigen eines Truppenteils gesammelt worden waren. Das dritte Gemeinschaftsgrab war von Nikolai Orlow angelegt worden.“

 

Im Jahr 2008/2009 wurde bei Mjasnoi Bor eine Gedenkstätte errichtet, auf der die bislang mehr als 39.000 gefallenen sowjetischen Soldaten, gefunden in den Jahren zwischen 1958 und 2022, in Massengräbern beigesetzt wurden.

 

VI.   Die „Suchexpedition Dolina“ heute

Heute ist die „Suchexpedition Dolina“ mit 76 Suchteams und mehr als 1.000 Angehörigen die größte mit der Suche nach gefallenen Soldaten befasste Vereinigung Russlands, die sich neben der organisierten Suche nach den Gefallenen von Mjasnoi Bor und anderer Orte ebenso widmet wie der Pflege des Andenkens an Nikolai Orlow.

Nach eigenen Angaben hat die „Suchexpedition Dolina“ im Gebiet um Nowgorod seit 1988 mehr als 130.000 gefallene Soldaten gefunden und bestattet, von mehr als 25.000 davon konnten die Namen ermittelt werden (vgl. die mit vielen Fotos versehenen Expeditionsberichte hier, hier und hier).

Von der Suche nach den Gefallenen bei Mjasnoi Bor handelt der Film „Angels of Death“ des niederländischen Filmemachers Leo de Boer aus dem Jahr 1997, darin kommen auch Alexander Orlow und seine Mutter zu Wort.

 

 

(Titelfoto: Sowjetischer Stahlhelm im Wald von Mjasnoi Bor,
fotografiert von Evgeny Feldman, Quelle: Artikel „Explore the Valley of Death“)

 

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