Gedanken zum Krieg: Tag der Entscheidung Irgendwo (Veröffentlicht am 22.11.2023)
Neben Briefen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit vermitteln auch Literaturquellen aus der damaligen Zeit einen anschaulichen Eindruck davon, was Krieg für die Menschen bedeutet und welch hohen Preis alle Soldaten und ihre Familien im Krieg zu bezahlen haben – zumeist ganz im Gegensatz zu jenen, die ihn politisch angefacht und initiiert haben. Es ist von zentraler Bedeutung, die Erinnerung an die Zeiten des Krieges und an seine Folgen wach zu halten, um zu verhindern, dass die immer gleichen Mechanismen einmal mehr in Ganz gesetzt werden und sich die Geschichte mit immer fataleren Folgen wiederholt.
An den Gräbern der auf dem Soldatenfriedhof in Hürtgen beerdigten Toten stehend, hat der damalige Bundespräsident Theodor Heuss die Bedeutung des Kriegsgedenkens in seiner Rede zur Eröffnung dieses Friedhofs am 17.08.1952 wie folgt formuliert:
„Sie waren Menschen wie wir. Aber an diesen Kreuzen vernehmen wir ihre Stimmen: ‚Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.‘“
Zu diesem Zweck sollen hier unter dem Titel „Gedanken zum Krieg“ Literaturauszüge wiedergegeben werden, die den Krieg und seine Folgen beschreiben, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.
Besonders anschaulich werden das Chaos und die Geschehnisse der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und die Gefühlslage eines unmittelbar betroffenen Deutschen in einem Bericht Emil Barths aus einem unbekannten deutschen Ort während seiner Besetzung durch US-Truppen beschrieben, der seinem Werk „Lemuria – Aufzeichnungen und Mediationen aus den Jahren 1943 bis 1945“ entnommen ist.
Er schreibt (zitiert nach Kuby, Das Ende des Schreckens [1986], S. 176 ff.):
„TAG DER ENTSCHEIDUNG IRGENDWO
16. April 1945 / abends
Die Entscheidung ist gefallen, das Unfassliche Wirklichkeit geworden. Übervoll von den Ereignissen des heutigen Tags, verzeichne ich nur dies, erschüttert und bewegt; ich schreibe es nieder bei dem heraufhallenden Trott Hunderter und aber Hunderter deutscher Soldaten, die drunten in der Dämmerung unter den Rohren amerikanischer Panzer in die Kriegsgefangenschaft ziehen.
17. April 1945 / Dienstag
Die Schicksalsstunde, die wir alle seit Monaten zwischen Bangen und Hoffen erwartet hatten, kam gestern Vormittag völlig überraschend. Das Störungsschießen hatte seit drei Stunden aufgehört, doch umlief den Horizont in engem Halbkreis das unregelmäßige Feuer schwerer und kleiner Kaliber, wogegen wir aber – nach einem psychologischen Gesetz voller Weisheit – mit der wachsenden Annäherung der Gefahr immer gleichgültiger geworden waren und uns jetzt umso aufmerksamer verhielten, als ja die ganze Stadt mit Truppen vollgestopft lag und vor allem die Hauptstraße mit immer neu eintreffenden Resten abgekämpfter Verbände den Anblick eines Feldlagers bot.
Wie die vorigen Tage war auch dieser sommerlich warm und strahlend vor Sonne und Himmelsbläue und weißen Wolken der Baumblüte in allen Gärten; das Bild der abgerackerten Frontsoldaten freilich, die entschlusslos, schon wie halb entwaffnet, mit Resten armseliger Fahrzeuge, teils ohne Führung, auf etwas warteten, von dem sie selber nicht wussten, was es war: Entlassung oder Flucht, Kampf oder Übergabe, oder Verwundung und Tod – dieses trostlose Bild irdischer Verwirrung stand freilich zu dem frühlingsherrlichen des unbeirrbaren kosmischen Wandels in grausamem Kontrast. Und doch sollte es in wenigen Augenblicken einen wahrhaft furchtbaren Ausdruck annehmen!
Ich war eben dabei, in mein Taschenbuch zu schreiben, mit bezähmter Nervosität noch meinen Schlusssatz zu Ende bringend, während eine gleichsam durch die Luft sich verbreitende Unruhe rasch anwuchs und bald dem Herannahen eines stürmischen Rauschens unterm Knattern ferner Blitze glich. Schreckensrufe lösten sich heraus, taumelten, sich straßaufwärts fortpflanzend, mit Heftigkeit an mein Ohr. Zugleich setzte ein wildes Rennen tausender Füße ein und der Braus jagender Fahrzeuge, und wie aus einer Brandung warf sich ein wirrer Chor von Stimmen in die Lüfte: »Die Panzer kommen! Die Panzer sind da! Straße frei! In die Keller!« – dunkle, hallende, warnende Rufe von Männern, hohe Schreie aus Frauenkehlen und das kleine vogelhaft schrille Geschrei von Kindern.
Seit diesem Augenblick weiß ich, was Panik heißt.
Ich stürzte ans Fenster, halb hin-, halb weggerissen und doch von dem Anblick drunten gebannt. Die Straße glich dem Bett eines reißenden Stromes, bis auf die Bürgersteige überschwemmt von Massen flüchtender Menschen, die in blinder Angst um ihr Leben liefen, von der schon nahe heranlangenden Peitsche knatternder Maschinengewehre gehetzt. Keinem Ruf mehr zugänglich außer dem einen, der den Einbruch des toddrohenden Sturmwinds verkündete, den man von der Bahnhofsgegend herauf unwiderstehlich erbrausen hörte, wälzte sich der tobende Menschenwildbach unter wütenden Stauungen straßauf, Zivilpersonen jedes Alters und Geschlechts vermengt mit den in panischer Auflösung fortgerissenen Truppen, Soldaten aller Waffengattungen und jedes Ranges, von denen einzelne sich die Zeit nahmen, mit einem wütend-hoffnungslosen Schlag gegen einen Bordstein oder eine Mauerecke ihr Gewehr zu zerbrechen, andere im Laufen, im Überklettern von Gartenzäunen, im Stürzen und Sichwiederaufraffen ihre Stahlhelme oder Mützen vom Kopf rissen, ihre Pistolen fortschleuderten, sich des Koppels entledigten, ja in nicht geringer Zahl ihren Waffenrock abstreiften, worunter bereits das Blau eines Monteuranzugs oder sonstiges Zivilzeug zum Vorschein kam. Wie gleich hochgehenden Wogen aber und die reißende Kraft unaufhaltsam beschleunigend, drängten inmitten des Stroms fortwährend hupend Wehrmachtautos voran, peitschten stehend die Fahrer von Fouragewagen unter Hetz- und Warnrufen ihre Pferde, fegten, preschten, galoppierten herrenlose Gespanne und ledige Gäule mit hoch erhobenen, apokalyptischen Köpfen dahin.
Es war ein Bild entfesselter Naturkräfte.
Ich sah es, ich fasste es auf, empfing es in tausend zusammenströmenden Momentbildern »wie mit der Nadel ins Weiße des Auges gestochen« – so pflegen die arabischen Märchenerzähler zu sagen, wenn sie das schlechthin Unglaubwürdige, Phantastische, Wunderbare als in sichtbarer Wirklichkeit erlebt bezeugen wollen –, aber ich war wie geistesabwesend und riss mich erst von dem Anblick los, als ich im Hause rufen hörte. Dies also war der Augenblick, der unser Schicksal besiegeln würde? Solche Züge trug er und hieß uns noch gnädig? Unsre Augen gestanden es einander, als wir uns bei der Treppe trafen, mit einem Aufleuchten, das bei aller Jähe und Unberechenbarkeit des eintretenden Ereignisses die Ahnung glücklichen Überstehens austauschte. Und während dann drunten die Frauen noch ein paar Fremde hereinließen, die gegen die Haustür trommelten, und mit ihnen eilends den Keller aufsuchten, trat ich noch einmal an ein Fenster zur Straße: sie war schon fast leer. Nur einzelne Soldaten flüchteten noch zur Seite in irgendeinen Hausflur oder Hof. Und vor dem eisernen Brausen der heranrollenden Panzerwagen, das bereits die Scheiben klirren machte, vor dem Knattern der Maschinengewehre, das dunkle Stöße schwererer Waffen durchschlugen, jagten als letzte Nachhut des wilden Stromes der Flucht zwei Rossegespanne mit schleppender Deichsel und halbzertrümmerten, sich weiter auflösenden Wagen vorüber: Rappen, schweißnass mit flockigem Schaum bedeckt, und falbe schwere Kaltblutpferde mit wehenden blonden Mähnen und feuerschlagenden Hufen – Entsetzen auch in den Augen der Kreatur!
Während ich den Keller erreichte, kamen die ersten Panzer auf der Höhe unsres Hauses an, fortwährend feuernd. Einige Minuten vergingen in äußerster Spannung, da sich von der Spitze der vorüberdröhnenden Kampfwagen her stärkere Feuerschläge in das pausenlose Geknatter der Kleinkalibergeschosse mischten. Sollte die Panzersperre doch noch geschlossen und besetzt worden sein? Würde es den Fanatikern der Vernichtung gelingen, sich durchzusetzen? Aber rasch zog der Kampflärm stadteinwärts weiter. Da fühlte ich in fast wilder, ungestümer schmerzhafter Bewegung aus jahrestiefer Nacht der namenlosen Bedrücktheit und des überpersönlichen Grams sich die Hoffnung im Herzen erheben wie eine umflorte Sonne; und während zum Dröhnen der nicht abreißenden Panzerkolonnen die Maschinengewehrgarben prasselten, umarmten wir alle einander in überströmendem Dankesgefühl und küssten uns – unsäglicher Kuss, der das Ende der blind-sinnlosen Herrschaft von Tod und Vernichtung besiegelte und ein erster Anhauch der Süße des Friedens war.
Das Schießen in der Straße ließ endlich nach, doch unaufhörlich dröhnte das Rollen der Kampfwagen vorüber. Es fiel schwer, bei solchen Vorgängen die ganze Zeit bloß auf den Sinn des Ohres angewiesen zu sein; und obwohl nun verstreutes Gewehrfeuer in den Gärten knällerte und Rufe in fremder Sprache durch die Luft hallten – wir hatten die Kellertür schon seit einer Weile geöffnet, Wolken von Birnbaumblüten schwebten im Rahmen des Türausschnitts wie überirdisch in der sonnigen Bläue – liefen wir rasch nach oben, um wenigstens mit einem Blick die Begierde des Sehens zu stillen. Ich muss Atem holen. Die ganze Schmählichkeit des Regimes, das unser Volk in den Staub erniedrigt hat, kam in dem bitterlichen Bilde zum Ausdruck, welches sich da draußen unsren Augen bot – diesem, nach allem was vorhergegangen, zuletzt nur mehr furchtbar-organischen Bild ungeordneter Übergabe der Soldaten eines an Leib und Seele gebrochenen Volkes. Barhäuptig, waffenlos, niedergeschlagenen Blicks oder Augen voll blanker Todesangst hin und her wendend, beide Hände erhoben oder über dem Scheitel, dem Nacken zusammengelegt – in einer Gebärde von unvergleichlicher Ausdruckskraft: das Joch der Unterwerfung symbolisierend —, so kamen einzeln oder in Zweier- und Dreiertrupps deutsche Soldaten aus Kellern und Höfen hervor und bewegten sich unsicher und zögernd unter den drohend auf ihre Brust, in ihren Rücken gerichteten Maschinenpistolen und Gewehren der Amerikaner dicht an den Zäunen der Vorgärten und den Häuserfronten entlang straßabwärts, entgegen der immer noch unaufhaltsam brausenden Strömung von Panzer- und Kampfwagen: kreatürlich-wehrloses, von langer Verfolgung erschöpftes Menschenwild, von Ungeheuern der stockwerkhohen Panzerungetüme erdrückend überschattet, im letzten, innersten Ring eines Treibjagdkessels endlich gestellt!
Nicht einen Tag lang während dieses ganzen entsetzlichen Kriegs, ja, auch vor seinem mit dämonischer Lust planmäßig entfesselten Ausbruch nicht, hatte ich geglaubt, dass es zu anderem führen werde als zu einer vernichtenden Niederlage unsres Volkes; aber dass man es so weit mit uns würde treiben können, wie es geschehen, dass man in wenigen Jahren die Substanz von Jahrhunderten opfern und willens sein würde, uns bis zum letzten Tropfen ausbluten zu lassen, ein solcher Grad von Ruchlosigkeit war mir allerdings nicht vorstellbar gewesen. Das war es, was einem das Herz im Leib hätte umdrehen mögen: unser unseliges Volk nicht von einem äußeren Feinde, sondern durch sich selber in diese Lage gebracht zu sehen – durch die wahnhafte Aufblähung seiner nationalen Schwächen Großmannssucht und Sklavensinn unter der Gewaltherrschaft von Minderwertigen.
Erschüttert begaben wir uns in den Keller zurück. Ein leichterer Kampfwagen war eben im Begriff, sich aus der vorüberbrausenden Kolonne zu lösen und in den Nachbarhof, ein zweiter auf den Gehsteig neben unsrer Eingangspforte aufzufahren; die khakigelben Gestalten im Stahlhelm, die sie besetzt hielten, sprangen ab, um sich unter lauten Rufen in den Höfen und Gärten hinter den Häusern zu verteilen. Und noch hielt ich die Kerze, an der ich mir eben eine Zigarette anrauchte, in der Hand, als das Rufen auch hinter unsrem Haus laut ward und oben auf der Kellertreppe eine und noch eine behelmte Gestalt, Schnellfeuergewehre aus der Hüfte im Anschlag, das zauberhafte Frühlingsbild verdunkelten. »Come up!« riefen sie und winkten uns herauf. Und so brachten auch wir, Männer wie Frauen, der Stunde unsern Tribut mit erhobenen Händen, von einem dritten Soldaten draußen empfangen und mit leicht gesenkter Maschinenpistole in eine Reihe beordert, unterdes die andern beiden den Keller nach etwa versteckten deutschen Soldaten durchsuchten.
Und während wir auf Befragen erklärten, weder Waffen noch Militärpersonen befänden sich im Haus — die Frauen wandten ihr Englisch gleich ausführlicher an –, besah ich mir den ersten dieser Fremden von jenseits des Ozeans, der ebenso gut einer meiner Vettern hätte sein können. Groß, breitschultrig, braungebrannten Gesichts unterm ungezwungen zurückgeschobenen Stahlhelm, mit einem prächtigen Gebiss Gummi kauend und seine Worte malmend, so bot er in seinem leinenartigen sandfarbenen Dress mit den heraufgerollten Hemdärmeln den Anblick von Kraft und Lässigkeit: einer Lässigkeit, wie mir schien, des unbefangenen Selbstbewusstseins und der demokratischen Freiheit seines großen Landes, jenes seltsamen Abkömmlings Europas, dessen künftiger Charakter es wesentlich bestimmen wird, sich durch zwei Kriege in diesem alten, rückständig-zwieträchtigen Mutter-Erdteil zur mächtigsten Nation entwickelt zu haben.
Als wir dann endlich zur Straße hinaustreten konnten – von anderen Ortsteilen herüberwehend, hing die Luft noch voll von den Schussketten der automatischen Waffen, dumpfe Feuerschläge der Panzerkanonen hallten ringsumher, über der Mitte unsres Ortes stiegen Brandwolken auf –, da begann eben einige Schritte oberhalb unsres Hauses eine abscheuliche Szene zu spielen, die in meiner Erinnerung für immer das tragische Bild dieser Stunde beflecken wird. Ein von Geschossen getötetes Pferd lag am Straßenrand, noch in der Deichsel des Jauchewagens, der halb über den Bürgersteig aufgefahren stand; und binnen weniger Minuten umwimmelten den Kadaver Weiber und Männer bei dem blutigsten Geschäft. Eimer oder Wannen in der Linken tragend, mit der Rechten ein weißes Taschen- oder Küchentuch neben ihren zugleich von Angst und von Begierde erregten Gesichtern schwenkend, so kamen sie aus den Häusern gelaufen und rissen sich um die Beute unter den Rohren der Panzerwagen, während mehr und mehr deutsche Soldaten in Gruppen und kleineren, schon geordneten Formationen mit über dem Kopf zusammengelegten Händen straßabwärts den bitteren Weg in die Kriegsgefangenschaft zogen. Begreiflicherweise wurde die Szene sofort von den Amerikanern photographiert. Zwei Männer hatten eine ganze Hinterkeule erbeutet und schleppten sie eilends und mühsam, so dass der Huf auf dem Pflaster klapperte, noch dicht vor der Spitze einer von Offizieren geführten größeren Gefangenenkolonne über die Straße. Was für ein Elendsbild, dieser blutige Klumpen Fleisch im aufgerissenen braunen Fell wie der Fleck einer scheußlichen Fahne vor dem Zug der zu Tode erschöpften Truppe, die, von einem langsam fahrenden Kampfwagen eskortiert und Mann für Mann unterm symbolischen Joch der überm Nacken zusammengelegten Hände, mit gesenkten oder starr geradeaus gerichteten Augen, unter dem Blick ihrer schweigenden Landsleute über die mit Uniformstücken und Waffentrümmern besäte Straße, das letzte Stück ihres unseligen Weges dahinzieht, gebeugt nicht nur von der Einsicht in die Endgültigkeit ihrer Niederlage, sondern von der Ahnung der unausdenkbaren Infamie, die binnen einem Dutzend Jahren zu dieser Stunde geführt und namenloses Unglück über die Erde, Ruin und Schande über ein großes Volk gebracht hat! Kein redliches Herz wird dem Mann die Träne verargen, die er in einem solchen Augenblick dem Unglück des Vaterlandes zollt.
Die Schnelligkeit des Panzervorstoßes hatte das Aushängen weißer Fahnen erübrigt, nur vor der Sperre, die zum Glück nicht mehr hatte geschlossen werden können, hingen einige Laken aus den Fenstern herab. In den Seitenstraßen und vor allem im oberen Ortsteil wurden unterdessen die Kampfhandlungen fortgesetzt; und nichts war phantastischer als diese Entrückung des Krieges in eben demselben Augenblick, da er sich kaum ein paar hundert Meter entfernt in Einzelgefechten verörtlichte. Noch feuerte von der Heide her deutsche Artillerie, in der Richtung der Anmarschstraße reihten sich die Rauchsäulen brennender Autos und Panzerwagen, immer wieder drückte der Bausch unferner Detonationen gegen Mund und Ohren, und das Knattern der Kleinkaliber wanderte hin und her. Aber hier auf der Straße war der Krieg zu Ende. Die leichten Kampfwagen und die überschweren Ungetüme mit dem weißen Stern im Kreis und allerlei grotesken Bemalungen im Kabarettstil standen in Ruhe, die Bemannung war abgesessen, bis auf einzelne Posten hinter den die Straße beherrschenden Maschinengewehren; manche verzehrten ihr Büchsengericht, andere durchsuchten ziemlich planlos die Häuser nach Waffen, wobei zugleich Ferngläser und photographische Apparate beschlagnahmt wurden, der und jener aber auch als privaten Tribut eine Armbanduhr oder einen Füllfederhalter mitgehen ließ.
Durchsickernde Nachrichten aus der Stadtmitte erzählten indessen von Plünderungen der Lebensmittel und Textilgeschäfte durch die Massen der aus dem Osten verschleppten Arbeiter, die sich aus ihren Lagern aufgemacht hatten: Auflösungserscheinungen, die zu erwarten gewesen waren und denen hier die hemmungslose Ausschlachtung des gefallenen Pferdes entsprochen hatte. Längst lag nur noch ein Haufe blutigen Unrats und irisierender Eingeweide in der Gosse. Endlich aber erschienen jene zwei Männer wieder, die den Hauptanteil davongetragen hatten, und machten sich ans Werk, die Straße zu säubern: an eisernen Stangenhaken schleppten sie die Reste des Kadavers zu dem nahen Panzerschützenloch, stießen sie hinein und warfen etwas Erde darüber. So endete an dieser Stelle der große Krieg mit der Miniatur einer Schindanger-Szene.“
Das machtvollste Mittel gegen die Wiederholung der Geschichte sind Erinnerung und Gedenken.
(Titelfoto: Gedenkstein mit der Inschrift „Jedermann“,
Ehrenfriedhof Bischofsgrün, September 2023)
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