Zum Gedenken: Bergung gefallener Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg durch Toni Latschrauner (Veröffentlicht am 22.04.2022, aktualisiert am 06.06.2022)

Auf diesem Blog soll auch an diejenigen erinnert werden, die sich ganz ähnlich wie Julius Erasmus für die Bergung, Identifizierung und Bestattung Gefallener eingesetzt und sich im Sinne der Angehörigen bemüht haben, den Toten ihre Namen wiederzugeben. Über Gerda Dreiser aus Bitburg, Lodewijk Johannes Timmermans in Ysselsteyn und Nikolai Orlow aus Nowgorod wurde bereits berichtet.

Ähnlich engagiert hat sich auch Anton („Toni“) Latschrauner aus Meran in Südtirol. Nach seinem Kriegsdienst verbrachte er lange Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, bevor er im März 1956 eine Beschäftigung für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge aufnahm. Dieser setzte ihn in zahlreichen Ländern für die Suche nach Gefallenen und deren Umbettung ein. So war er neben der BR Deutschland in Algerien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Schweden und Tunesien tätig. Dabei wurde er oft für schwierigste Bergungsaufgaben herangezogen, z. B. für solche im Hochgebirge, aus Schluchten und Höhlen. In Berichten über ihn werden immer wieder seine besonderen Fähigkeiten gerühmt. Insbesondere sein Spürsinn sowie seine unermüdliche Einsatzbereitschaft hätten Umbettungen von Kriegstoten ermöglicht, deren Bergung vielfach schon als aussichtslos angesehen worden sei.

Im Juli 1986 wurde er aus seiner Tätigkeit beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in den Ruhestand verabschiedet. Gleichwohl hat er auch danach – ungeachtet gesundheitlicher Beeinträchtigung – in Italien weitere Umbettungsarbeiten übernommen.

In einem Artikel aus der Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge“ des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge aus dem Jahr 1970 werden der Mensch Toni Latschrauner und sein Tun wie folgt beschrieben (Artikel „Der Latschrauner Toni“ von Karl-Heinz Darweger, Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge“ des Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge, Ausgabe 8/1970):

„Da steht er, mitten auf dem Stoppelfeld, breitbeinig, unbeweglich wie ein Pfahl: Toni aus Südtirol. Ein Gesicht hat er wie ein Bergführer; wetterbraun, ein wenig faltig. Er hat einen festen Blick. Was er anschaut, das sieht er auch. Und dann die Narbe an der linken Schläfe. Die ist aus Russland. Damals, als er mit einer Hafthohlladung den Panzer angriff, der ihn in seinem Schützenloch festwalzen wollte.

Seine äußerliche Ruhe trügt. Wie ein Luchs beobachtet er, wie Giuseppe und Domenico, seine italienischen Helfer, den schwarzbraunen Ackerboden abheben, die Schollen auf die Stoppeln werfen. Da unten liegt ein toter deutscher Soldat. 25 Jahre lang ging der Pflug über ihn hinweg. Aber vergessen war er nicht. Der elsässische Bauer, dem der Acker gehört, führte die Pferde mit schlechtem Gewissen. Erst hatte er um das Holzkreuz herumgepflügt. Aber eines Tages, als das Holz morsch geworden war, wich das Gespann nicht mehr aus. In der Familie sprach man nicht mehr davon. Doch beim Volksbund in Kassel gab es eine Karteikarte, ein paar Blätter mit spärlichen Angaben. Guémar, freies Feld, in ehemaligem Schützengraben, ein Toter. Er soll mit einem Maschinengewehr beerdigt worden sein, Name und Truppenteil unbekannt.

Und nun ist Toni da. Er will ihn holen, den Toten, und ihm seinen Namen wiedergeben. Der Umbetter Toni Latschrauner aus Meran, 45 Jahre alt, Vater von drei lebhaften Buben, die ihren ‚Papa‘ nur sehr selten sehen. Seine Frau hat sich daran gewöhnen müssen, dass er immer wieder für Wochen, für Monate irgendwo Gefallene birgt. Und wo war er schon überall: In Italien, Frankreich, Griechenland.

‚Halt!‘ ruft er jetzt, und die beiden Arbeiter aus den Abruzzen fahren zusammen. Toni streift sich Gummihandschuhe über, ergreift den Eisenhaken. Dann steigt er in die Grube. Er hat den Spaten so merkwürdig knirschen gehört. Und zu seinem eigenen Erstaunen findet er – das MG. Rost und Erde haben es angegriffen. Augenblicke später liegt die Waffe mit einer Munitionskiste auf der Plastikunterlage neben dem Loch. ‚Es stimmt!‘ staunt Toni. ‚Das MG ist wirklich da. Dann liegt der Mann auch hier!‘ Er hat ihn gefunden, den jungen deutschen Soldaten. Und er hat seine Gebeine sorgfältig untersucht. Oberschenkelschuss, Schulterschuss, Kieferschuss – erkennt er. Der Mann ist verblutet. Wenn dem jemand hätte helfen können, als es ihn erwischt hatte, man denkt ganz von allein so: ‚wenn‘ und ‚hätte‘. Aber jetzt bleibt nur die Arbeit. Sachlich, ohne falsche Sentimentalität.

Er sucht und er findet. Über seinen Instinkt, die genaue Lage eines Toten zu bestimmen, erzählt man sich beim Volksbund erstaunliche Geschichten. Meist findet er mehr Grabstellen, als bekannt waren. Einmal schickte man ihn zu vier Gräbern. Er fand 22. Die meisten Toten wurden identifiziert. Viele Angehörige wussten plötzlich, nach langen Jahren der Ungewissheit, wo ihr Vater, ihr Mann, ihr Bruder gefallen war. (…)

 

Herr Latschrauner wurde für seine Verdienste um die Bergung gefallener Soldaten vielfach ausgezeichnet. Unter anderem wurden ihm in den Jahren 1979 und 1988 unterschiedliche Stufen des deutschen Bundesverdienstkreuzes verliehen.

Toni Latschrauner, geboren am 20. Oktober 1925, starb am 5. Oktober 2009 nach kurzer Krankheit im Alter von 83 Jahren.

 

(Titelfoto: Deutscher Soldatenfriedhof
Ysselsteyn/Niederlande, Mai 2023)

 

Meine Arbeit können Sie hier unterstützen, vielen Dank!

 

Archiv