Episoden des Krieges: Weihnachten 1945 in Kriegsgefangenschaft – „Der Trompeter von Arkansas“ von Rudolf Müller (Veröffentlicht am 13.12.2024)
In einer Publikation des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge berichtet der ehemalige Kriegsgefangene Rudolf Müller über den Trompeter von Arkansas (Rudolf Müller, Trompeter von Arkansas, aus: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Stille Nacht, Heilige Nacht – Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit, 3. Aufl. (2008), S. 84 ff.):
„Nach dem Ende der Kämpfe um die Festung Brest/Bretagne im September 1944 kamen die Überlebenden zuerst in mehrere Gefangenenlager in Frankreich und England. Von hier aus wurden dann Transporte in die USA zusammengestellt. Die Reise endete am 12. November 1944 im Lager Camp Chaffee/Arkansas.
Die ‚POW‘ (Kriegsgefangenen) von Camp Chaffee werden einen ihrer Kameraden niemals vergessen können, den kleinen Trompeter. Ein Gefreiter des Afrika-Korps im B-Lager, er war klein und schmächtig, gab mit seiner Trompete morgens das Signal zum Wecken und abends zur Ruhe. Doch dieses allein hätte uns nicht besonders beeindruckt.
Die Nächte in Arkansas waren im Sommer oft so schwül, dass man auf den Pritschen nur schlecht einschlafen konnte. Um 22 Uhr herrschte im gesamten Camp Totenstille, denn jeder wartete auf das Signal. Erst blies unser Kamerad den ‚Zapfenstreich‘ und anschließend immer ein Trompetensolo. In der 30-Mann-Baracke konnte man eine Stecknadel fallen hören, wenn in der sternklaren Nacht ‚Hörst du mein heimliches Rufen‘ oder ‚Mädel, ich bin dir so gut‘ erklangen.
Selbst die Wachmannschaften fanden sich täglich zu dieser Stunde am Lagertor ein, um den Melodien unseres Trompeters zu lauschen. Sein Spiel drückte besonders Weihnachten 1945 aufs Gemüt. Viele Kameraden, auch ich, hatten bis dahin noch keine Post aus der Heimat erhalten. Ein großer Teil wusste noch nichts von den ausgebombten und vertriebenen Angehörigen in der Heimat.
Am Lagertor stand ein großer Christbaum. Dort wartete am Weihnachtsabend geduldig unser Trompeter, bis der Lagerführer ihm Bescheid gab, dass die internen kleinen Feiern in den einzelnen Baracken vorbei seien. In allen Baracken kehrte sofort Ruhe ein, als das ‚Stille Nacht‘ erklang.
So innig hatte diese Melodie noch niemand von uns aufgenommen. Unser Trompeter legte seine ganze Kunst und sein Gefühl in dieses Solo. Ich stand mit einigen Kameraden auf der Barackentruppe, wir lauschten in die Nacht. Hinter unserem Lager begann der Wald und in dessen unheimliche Stille wurde nun das Weihnachtslied getragen.
Unter dem beleuchteten Weihnachtsbaum stand unser Trompeter und gab uns so viel Trost, wie uns sonst niemand geben konnte. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wie lange er uns in dieser Nacht die Heimat näher brachte. Erinnern kann ich mich, dass auch das ‚Heimat deine Sterne‘ erklang. Am Lagertor und vor dem Lager standen viele US-Soldaten, die ebenso ergriffen waren von den Klängen der Trompete wie wir.
Anfang 1946 hieß es, dass alle Kriegsgefangenen nach Deutschland entlassen werden. Unser Schiff legte im März 1946 in Ostende/Belgien an und nach vier Wochen Hungerlager im Camp 2227 fanden wir uns für die nächsten zwei Jahre in Arbeitslagern in England wieder. Ein unvergessliches Erlebnis blieb für uns der sympathische Gefreite des Afrika-Korps. Er hatte uns in schwerer Zeit, besonders an Weihnachten, viel Trost und inneren Halt gegeben. Wir waren ihm dankbar und haben ihn nicht vergessen.“
(Titelfoto: Umsponnener Stacheldraht
an einer Weide bei Düsseldorf, Oktober 2022)
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