Gedanken zum Krieg: Werner Bergengruen – Die letzte Epiphanie (Veröffentlicht am 15.12.2023, ergänzt am 07.06.2024)
Die letzte Epiphanie
Ich hatte dies Land in mein Herz genommen.
Ich habe ihm Boten um Boten gesandt.
In vielen Gestalten bin ich gekommen.
Ihr aber habt mich in keiner erkannt.
Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn.
Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher
und meintet noch, Gott einen Dienst zu tun.
Ich kam als zitternde, geistesgeschwächte
Greisin mit stummem Angstgeschrei.
Ihr aber spracht vom Zukunftsgeschlechte,
und nur meine Asche gabt ihr frei.
Verwaister Knabe auf östlichen Flächen,
ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot.
Ihr aber scheutet ein künftiges Rächen,
ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod.
Ich kam als Gefangener, als Tagelöhner,
verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt.
Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner.
Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?
(aus: Werner Bergengruen, Dies Irae – Eine Dichtung (1946), S. 9)
Werner Bergengruen (geb. am 16.09.1892 in Riga/Lettland, gest. am 04.09.1964 in Baden-Baden) war ein deutsch-baltischer Schriftsteller, er war einer der bekanntesten und beliebtesten Autoren sowohl während der NS-Zeit als auch in der frühen Bundesrepublik.
Zwar national-konservativ eingestellt, stand er dem Nationalsozialismus aufgrund seines christlich-humanistischen Weltbildes distanziert gegenüber, ohne diesen offen abzulehnen. 1937 aufgrund angeblich mangelnder Eignung zur Mitwirkung am „Aufbau der deutschen Kultur“ durch schriftstellerische Veröffentlichungen aus der „Reichsschriftumskammer“ ausgeschlossen – die Mitgliedschaft war Voraussetzung für jede berufliche Betätigung auf dem Gebiet des Schrifttums –, durfte er aufgrund einer „Dauersondergenehmigung“ dennoch publizieren. Zwar wurden sein Gedichtband „Der ewige Kaiser“ (1937) und der Roman „Am Himmel wie auf Erden“ 1940 verboten und ein Rundfunk- sowie Vortragsverbot gegen ihn verhängt, etliche andere seiner Werke durften jedoch nicht zuletzt aufgrund seiner Popularität als Autor erscheinen.
Nach der Zerstörung seines Hauses in München-Solln im Jahr 1942 übersiedelte er nach Achenkirch in Österreich und kehrte nach Stationen in der Schweiz und Italien 1958 nach Deutschland zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte.
Das hier zitierte Gedicht ist seinem Werk „Dies Irae – Eine Dichtung“ entnommen, das – im Sommer 1944 verfasst – erst nach Kriegsende erschien und sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland während der NS-Zeit dichterisch auseinandersetzt. „Dies Irae“ bedeutet „Tag des Zorns“, gewählt vermutlich in Anlehnung an eine mittelalterliche Hymne über den Tag des Jüngsten Gerichts, die seinerzeit in der kirchlichen Liturgie als Teil der Totenmesse gesungen wurde und wohl sinnbildlich für eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus zu verstehen ist.
(Titelfoto: Grabkreuz mit der Inschrift „Unbekannter russischer Soldat“,
Ehrenfriedhof Heidelberg, April 2022)
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